Prof. Winfried Nerdinger über die Ausstellung zur TUM-Geschichte im NS-Dokumentationszentrum
„Die THM hat das NS-Regime mitgetragen“
Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 organisierten Studenten der THM Kampagnen gegen jüdische und politisch andersdenkende Professoren. Hatte die NSDAP viele Anhänger an der Hochschule?
Ab 1930 war der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund bei den Hochschulwahlen die stärkste Gruppe. 1933 haben diese Studenten sofort ihr ganzes Gewicht eingebracht, um die Nazifizierung der Hochschule voranzutreiben. Sie haben Professoren persönlich ganz massiv unter Druck gesetzt, mit Plakataktionen und indem sie Vorlesungen gestört haben. Christian Prinz, der angegriffen wurde, da er in der Räterepublik im Hochschulrat mitgearbeitet hatte, hielt dies psychisch nicht aus. Er erkrankte an einem Magengeschwür und starb bei einer Notoperation – gewissermaßen das erste Opfer.
Auch die Machthaber selbst gingen schon im ersten Jahr gegen Hochschullehrer vor.
Wie an allen staatlichen Einrichtungen wurden an der THM jüdische Beamte und alle, die dem NS-Staat nicht passten, entlassen oder zwangspensioniert. Hier waren es im ersten Schritt sechs jüdische und vier politisch „unzuverlässige“ Hochschullehrer. Außerdem zwei Mitglieder der Architekturfakultät, deren künstlerische Auffassung nicht dem Nationalsozialismus entsprach. Später traf es fünf weitere Wissenschaftler. Manche konnten im Ausland arbeiten, andere aber sind total verarmt, einige wurden in den Tod getrieben.
Ab Oktober 1933 galt an der THM das Führerprinzip. Was bedeutete das?
Der Rektor wurde nicht mehr gewählt, sondern direkt vom Ministerium eingesetzt. Auch die Dekane wurden nach parteipolitischen Gesichtspunkten ausgesucht. Diese „Führer“ waren mit erheblicher Macht ausgestattet, um ideologische Vorgaben umzusetzen.
Wie haben die Professoren darauf reagiert?
Der Grad der Ideologisierung war von Fakultät zu Fakultät sehr unterschiedlich, abhängig von den prägenden Professoren. Beispielsweise gab es in der Chemie und im Maschinenwesen starke, international renommierte Persönlichkeiten wie Nobelpreisträger Hans Fischer und Ludwig Föppl, die sich nicht ideologisieren ließen, eine vergleichsweise offene Atmosphäre bewahrten und Standfestigkeit bewiesen, auch bei Neubesetzungen der Lehrstühle. In der Architektur dagegen, wo German Bestelmeyer die starke Figur war, wurden nur noch parteitreue Personen berufen, sodass bald die gesamte Fakultät auf traditionell-konservatives Bauen ausgerichtet war.
Gab es an der THM Widerstand, ähnlich der Weißen Rose an der Ludwig-Maximilians-Universität?
Wir haben ganz wenige Formen von Widerstand gefunden. Offene, politisch gezielte Aktionen wie die der Weißen Rose gab es nicht. Es gab Resistenz, also die Verweigerung der Ideologisierung, und punktuellen Protest. Ein Beispiel: Gauleiter Paul Giesler kritisierte 1943 in einer Rede vor Angehörigen der Münchner Hochschulen und NS-Funktionären die hohe Zahl von Studentinnen. Er warf diesen vor, nur deshalb zu studieren, um sich vor einem Arbeitseinsatz zu drücken oder um einen Ehemann zu finden. Unter den Studentinnen ihm Saal rumorte es daraufhin, ihr Unmut wurde deutlich. Schon dafür wurden sie vorübergehend verhaftet und von der Gestapo verhört. Das zeigt, wie selbst kleinste kritische Aktionen massiv verfolgt wurden.
Wie hat die Ideologie die Forschung und die Lehre beeinflusst?
Es gab Bestrebungen von nationalsozialistischen Wissenschaftlern, auch die Naturwissenschaften und die Mathematik auf eine rassisch-völkische Grundlage zu stellen. Beispielsweise lehnten die Vertreter einer „Deutsche Physik“ die moderne theoretische Physik ab, die sie als jüdisch geprägt bezeichneten, insbesondere die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Diese Richtung gewann an der THM aber keinen großen Einfluss.
Besonders stark mit Blut-und-Boden-Vorstellungen und Deutschtum durchdrungen waren dagegen die landwirtschaftliche Forschung und Lehre in Weihenstephan, mit schlimmen konkreten Folgen: Botaniker haben mit dem Konzentrationslager Dachau an dem dortigen Kräutergarten zusammengearbeitet; auf den Weihenstephaner Ländereien wurden die meisten Zwangsarbeiter der THM eingesetzt; es wurde ein Studiengang Koloniale Wissenschaften eingerichtet, um Fachleute für die Besiedlung der eroberten Gebiete in Osteuropa auszubilden – als Beitrag für den grauenhaften und mörderischen Generalplan Ost, nach dem Teile der Bevölkerung ermordet oder umgesiedelt werden sollten. Professoren standen in direktem Austausch mit dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, der in Weihenstephan studiert hatte.
In die Forschung zur Vorbereitung und Führung des Krieges wurden alle Fakultäten einbezogen.
Für kriegswichtige Ziele, wie zum Beispiel den Aufbau der Luftwaffe, hat der NS-Staat enorme Mittel für die Forschung bereitgestellt. Alle Technischen Hochschulen des Reiches wurden Teil von zentral gesteuerten Programmen, die einzelnen Aufträge wurden meist von der Wehrmacht vergeben. Auch aus der Industrie floss viel Geld, es gab eine engste Verflechtung von Militär, Wirtschaft und Wissenschaft.
An der THM wurden für diese Zwecke mehrere neue Institute gegründet, beispielsweise in den Bereichen Luftfahrt, Straßenbau und Treibstoffe. Es fand also eine durchgehende Militarisierung der Forschung statt, die während des Krieges noch einmal verschärft wurde. Und die Hochschulen, auch die THM, haben diese Rolle gerne angenommen. 26 THM-Institute wurden im Krieg als Rüstungsbetrieb eingestuft, die Hochschule als Ganzes mit dem fragwürdigen Ehrentitel Kriegsmusterbetrieb ausgezeichnet, der für ein Übersoll an Leistung vergeben wurde.
Auch Wissenschaftler, die keine Nationalsozialisten waren, haben bereitwillig für die Rüstung gearbeitet. Hans Fischer hat ein Labor für Giftgasforschung aufgebaut.
Die deutsche Professorenschaft war in der Weimarer Republik stark nationalkonservativ eingestellt. Auch Wissenschaftler, die wenig oder gar nicht der NS-Ideologie anhingen, haben es als ihre patriotische Pflicht gesehen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in den Dienst des Staates zu stellen, wie eben Fischer. Diese Selbstmobilisierung ist ein wichtiger Aspekt. Denn man kann einem Forscher nicht mit Druck eine gute Leistung abgewinnen. Wer nicht wirklich forschen will, der bringt auch nichts zustande.
Im Gesamten betrachtet hat die THM also das NS-Regime mitgetragen?
Die Technischen Hochschulen waren ein konstitutiver Teil des Systems, dessen Ziele sie mit verfolgt haben – dem müssen wir ins Auge sehen. Es gab jahrzehntelang die Vorstellung, dass Technik- und Naturwissenschaft wertneutral seien und entsprechend auch ihre Forschungsarbeiten im Nationalsozialismus. Die Wissenschaft wurde getrennt von ihrer Funktion und ihrer Zielsetzung betrachtet. Es gibt aber keine wertfreie Forschung, weil sie nicht in einem luftleeren Raum stattfindet, sondern für eine bestimmte Gesellschaft, von der sie geprägt ist. Umso wichtiger ist es, heute Forschung und Lehre an Technischen Hochschulen in einen ethischen Zusammenhang und in demokratische Werte einzubetten.
Zur Ausstellung:
NS-Dokumentationszentrum München
Max-Mannheimer-Platz 1 (ehemals Brienner Straße 34)
80333 München
Öffnungszeiten:
18. Mai - 26. August 2018
dienstags bis sonntags
10 - 19 Uhr
Eröffnung:
17. Mai 2018, 19 Uhr
mit einem Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Herbert zu „Wissenschaft und Hochschulen in der NS-Zeit“
Begleitprogramm:
Offene Rundgänge durch die Sonderausstellung
Jeden Dienstag (ausgenommen Feiertage), 17.30 Uhr
Anmeldung bei veranstaltungen.nsdoku @muenchen.de
Vortrag „Die Wissenschaftspolitik des NS-Staates mit Schwerpunkt Technische Hochschulen“
von Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann
Mittwoch, 6. 6. 2018, 19 Uhr
Workshop „Die Technische Hochschule München im Nationalsozialismus“
für Erwachsene
Donnerstag, 7. 6. 2018, 15 - 18 Uhr
Anmeldung bei buchung.nsdoku @muenchen.de
Buch zur Ausstellung:
Wolfgang A. Herrmann, Winfried Nerdinger (Hrsg.): Die Technische Hochschule
München im Nationalsozialismus. TUM.University Press, München 2018
Zur Person:
Prof. Dr.-Ing. Winfried Nerdinger war von 2012 bis April 2018 Gründungsdirektor des NS-Dokumentationszentrums München, des wichtigsten Lern- und Erinnerungsorts zum Nationalsozialismus in der bayerischen Hauptstadt. Zuvor leitete er 16 Jahre lang das Architekturmuseum der TU München, das er ebenfalls aufbaute. Er schuf damit das größte Spezial- und Forschungsarchiv für Architektur in Deutschland, das 2002 eigene Ausstellungsräume in der Pinakothek der Moderne erhielt. Im selben Zeitraum war er der erste Inhaber der Professur für Architekturgeschichte an der TUM. Zu den Forschungsschwerpunkten des Kunsthistorikers zählten die Architektur des 18. bis 21. Jahrhunderts, die Architektur- und Kunstgeschichte der Stadt München und die Geschichte der Architekturdarstellung. Nach seiner Emeritierung wurde Nerdinger zum TUM Emeritus of Excellence ernannt.
Mehr Informationen:
Technische Universität München
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