Big Data in der Medizin: Fortschritte bei Diagnose und Behandlung
Ein Blick auf die digitale Medizin der Zukunft
"Allein die moderne molekulare Medizin hat im Jahr 2015 mehr Daten erzeugt als im gesamten Zeitraum von 1990 bis 2005", sagt Burkhard Rost, Professor für Bioinformatik an der TUM. "Und in diesem Tempo wird das auch weitergehen." Bisher aber hinken Aufbereitung, Analyse und Anwendung dieser Datenschätze noch weit hinter den technischen Möglichkeiten her.
Woran es noch fehlt, sind entsprechende Algorithmen und die Verknüpfung so unterschiedlicher Fächer wie Medizin und Biologie einerseits und Informatik andererseits. "Die Interpretation der gigantischen Datenmengen kann ein Biologe gar nicht selbst leisten", betont Hans-Werner Mewes, Professor für Genomorientierte Bioinformatik an der TUM. "Hier braucht man bioinformatische Methoden."
An der TUM hat sich eine ganze Reihe von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen dem Ziel verschrieben, den Datenschatz der Lebenswissenschaften zu heben und ihn für Forscher, Patienten, Ärzte und Kliniken nutzbar zu machen. Außerdem kümmern sich Spezialisten um die Datensicherheit. Zusammen mit dem Großrechner im Garchinger Leibniz-Rechenzentrum verfügt die Universität damit über eine einzigartige Infrastruktur für Bio- und Medizininformatik.
Crowdsourcing – Datenanalyse als Computerspiel
Medizinische Daten liegen heute noch ziemlich ungeordnet vor: Labordaten von Blut- oder histologischen Untersuchungen, biochemische Informationen aus der Entschlüsselung der Erbanlagen (Genom) und der körpereigenen Eiweißbausteine (Proteom), statistische Ergebnisse aus unzähligen Experimenten und klinischen Studien sowie Bilddaten. Big Data also, aber in dieser Form nicht zugänglich für den praktischen Einsatz. Deshalb suchen Forscher nach Strategien, wie man die Flut der Informationen ordnen und in einheitlichen Datenbanken bündeln kann. Man erklärt und ergänzt sie durch Annotationen, die Auskunft über Herkunft, Eigenschaften und Inhalt der Daten geben.
Am Lehrstuhl für Informatikanwendungen in der Medizin & Augmented Reality von Professor Nassir Navab arbeiten Forscher unter anderem daran, die Zuordnung solcher Annotationen zu vereinfachen. "Ärzte und Laborpersonal haben in der Regel keine Zeit, sich um die Aufbereitung ihrer Daten zu kümmern", sagt Shadi Albarqouni. Er hat deshalb ein Projekt entwickelt, in dem die Mitwirkung vieler Internetnutzer möglich wird. Crowdsourcing heißt dieses Verfahren und beruht darauf, dass jeder, der Zeit und Lust hat, sich an der Erledigung bestimmter digitaler Aufgaben beteiligen kann. In Albarqounis Fall ist es die Analyse histologischer Gewebeschnitte, etwa bei Brustkrebs.
"Man muss dem Computer sagen, welche Zelle auf dem Bild eine Krebszelle ist, damit er daraus lernen und am Ende Krebszellen selbständig erkennen kann", erklärt der Forscher. "Das ist im Prinzip eine äußerst langwierige Tätigkeit, und meist werden aus Zeitgründen auch nicht alle derartigen Zellen in einem Histologieschnitt erfasst." Um auch nicht erfahrene Internetbenutzer in solche Auswertungen mit einzubeziehen, hat er ein Computerspiel entwickelt, das zum Ziel hat, möglichst viele bösartige Krebszellen "wegzuschießen". "In dieser Spielumgebung haben die Leute Spaß daran und zielen nur auf Objekte, die einer Krebszelle besonders ähneln." Der Computer registriert die "abgeschossenen" Zellen und gibt ihnen intern die Annotation "Krebszelle".
Kompliziertes Handbuch des Lebens
Ob spielerisch oder nicht, das Ziel bleibt, Datenmaterial in verwertbare Informationen zu transformieren. Wie ordnet und organisiert man beispielsweise Genom- oder Proteom-Daten? "Als man im Jahr 2001 die Sequenzierung des menschlichen Genoms abgeschlossen hatte, freuten sich alle und glaubten, nun das Handbuch des Lebens zu kennen", sagt Burkhard Rost. "Aber wie bei allen Handbüchern ist es auch hier so, dass man das nicht findet, was man eigentlich braucht, und wenn man es findet, versteht man es nicht. Wir haben bei der Deutung der genetischen Sequenzen heute erst ein kleines Fenster in der Kathedrale des Wissens aufgestoßen."
Lange herrschte zum Beispiel die Meinung, dass zwischen den Erbanlagen gesunder Menschen kein großer Unterschied besteht. Das Sequenzieren eines einzigen Genoms würde also ausreichen, um so gut wie alle Varianten zu erfassen. "Heute wissen wir, dass das falsch ist", sagt Rost, der im Jahr 2009 von der Columbia University in New York an die TUM kam. "Betrachten wir einmal die Proteine, also die Eiweißstoffe in unserem Körper. Wir besitzen etwa 20.000 Varianten, und etwa ein Viertel davon unterscheidet sich bei zwei Personen ganz essentiell."
Therapieerfolg dank Präzisionsmedizin
Das kann sich dann zum Beispiel darauf auswirken, wie und ob eine Chemotherapie wirkt. Manche Tumore sind gegen bestimmte Mittel unempfindlich, oder der Wirkstoff wird von den Krebszellen unschädlich gemacht. "Bei den meisten Massentumoren wie Brust-, Lungen-, Magen- und Darmkrebs spricht nur rund ein Fünftel der Patienten auf die konventionellen Chemotherapien gut an", weiß Professor Bernhard Wolf, Inhaber des Heinz-Nixdorf-Lehrstuhls für Medizinische Elektronik an der TUM. "Um die Patienten nicht unnötig zu belasten, den Therapieerfolg zu steigern und damit langfristig auch Kosten zu senken, ist es deswegen notwendig, die Therapie zu personalisieren."
Da es bisher noch nicht gelungen ist, die Sensitivität der Patienten durch genetische Marker zuverlässig zu bestimmen, hat ein Team an seinem Lehrstuhl Sensoren entwickelt, die im Vorhinein messen, wie stark Zellen, die dem Tumor des Kranken entnommen wurden, auf verschiedene Chemotherapeutika reagieren. Entsprechend dieser Wirkung kann der Arzt dann denjenigen Wirkstoff anwenden, der individuell am besten geeignet ist. Das System ist einsatzbereit und wird derzeit in einer vorklinischen Studie in einer Kooperation mit der Asklepios Klinik Hamburg-Barmbek getestet. Ideal wäre es jedoch, wenn ein Gentest des Kranken automatisch das richtige Chemotherapeutikum angibt.
Das Ideal wäre Präzisionsmedizin. Gemeint ist damit das Ziel, sich an den individuellen Merkmalen des kranken Menschen zu orientieren, um Vorhersage, Therapie und Prognose möglichst passgenau auf ihn auszurichten. Langfristig soll der Arzt bereits anhand des genetischen Profils seines Patienten ablesen können, welche Mittel für ihn am besten sind. "Das individuelle Genomprofil ist dann auf der Gesundheitskarte vermerkt, daher bekommt jeder Patient genau das Medikament, das er gut verträgt", schildert Rost die Zukunftsvision. "Sogar die Ernährung könnte man optimal auf die genetischen Eigenschaften eines jeden abstimmen."
Auf der Spur seltener Krankheiten
Davon ist man aber immer noch weit entfernt. Mit Schuld daran hat ist zweiter großer Irrtum, nämlich die Vorstellung, dass die nicht codierenden DNA-Stücke, die zwischen den bekannten Genen liegen, zu nichts nütze seien; "junk", also Müll, nannte man sie zunächst. Erst ganz allmählich kamen Forscher dahinter, dass Teile dieser DNA, die immerhin rund 95 Prozent der menschlichen Erbsubstanz ausmacht, ebenfalls wichtige Funktionen ausführen, etwa das An- und Abschalten von Genen besorgen, aber auch Informationen über die evolutionäre Entwicklung des Organismus enthalten.
Professor Mewes nennt als Beispiel die Forschungsarbeiten, die untersuchen, wer zu Fettleibigkeit neigt und wer nicht. "Hier spielt die Regulation der Gene eine große Rolle", sagt er, "deshalb ist es so schwer, Ursachen für Fehler innerhalb des Stoffwechsels nachzuvollziehen, auch wenn man schon durch genetische Populationsstudien einen Hinweis hat." Er und seine Kollegen haben sich darauf spezialisiert, solche Daten mit bioinformatischen Verfahren – etwa mit neuronalen Netzen – und mit der Technologie des Maschinenlernens zu entschlüsseln und zu deuten.
Durch die Analyse natürlich auftretender genetischer Variationen in den Proteinen des menschlichen Körpers wollen sowohl Hans-Werner Mewes als auch Burkhard Rost beispielsweise herausfinden, welche Mutationen für seltene Krankheiten verantwortlich sind. Das sind Erkrankungen, die, jede für sich genommen selten sind, aber in ihrer Summe etwa fünf Prozent der Bevölkerung betreffen. Sie können sehr früh im Leben auftauchen – oft schon vor der Geburt – und den Menschen sein ganzes Leben lang begleiten. "Mit klassischen Methoden sind sie fast unmöglich zu erkennen, meist braucht es fünf bis 20 Jahre bis zur klinischen Diagnose", sagt Hans-Werner Mewes. "Wenn jedoch der genetische Defekt gefunden ist, weiß man in 25 bis 40 Prozent der Fälle ganz genau, ob man gezielt therapeutische Maßnahmen ergreifen kann."
Auf der Suche nach Risikogenen für Schizophrenie und Krebs
Ein aktuelles Beispiel aus der Forschung ist etwa die Suche nach genetischen Varianten, die mit Schizophrenie einhergehen. Sie ist eine der schwerwiegendsten psychischen Erkrankungen, die weltweit 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung betrifft, wobei rund die Hälfte der Betroffenen lebenslang beeinträchtigt ist. Zahlreiche Familienstudien belegen eine starke genetische Komponente, doch konnte bisher kein Katalog von Mutationen erstellt werden, die Schizophrenie verursachen. "In der Fachwelt wird diskutiert, ob seltene genetische Variationen für das Auftreten von Schizophrenie verantwortlich sind", sagt Mewes. "Die Aufklärung der kausalen Zusammenhänge ist wichtig für die frühzeitige Diagnose und Behandlung sowie für die Entwicklung neuer Therapien."
Das gilt auch für die Krebsforschung. Auch hier sind Verfahren der Bioinformatik unentbehrlich. Mit ihnen kann man große Datenmengen durchsuchen und vergleichen; und allein mit mathematischen Methoden lassen sich so schon Hinweise auf gefährliche Mutationen finden – zunächst völlig unabhängig von der Ursachenforschung. Außerdem kann man genetische Muster eines Krebspatienten mit denen vieler anderer in einer Datenbank vergleichen und herausfinden, wo die größten Übereinstimmungen sind. So kann man, ähnlich wie Amazon mit seinen Buchempfehlungen, Erkenntnisse gewinnen, ohne Annahmen über Wirkmechanismen machen zu müssen.
Intelligente Sensoren – Virtuelle Verbindung zum Arzt
Digitalisierte Medizindaten dienen aber nicht nur der Forschung, sondern sie können auch unmittelbar zur Entlastung der Ärzte beitragen, wenn vor allem chronische Patienten virtuell mit dem Arzt in Verbindung bleiben. Bernhard Wolf und sein Team haben in den vergangenen Jahren mit dem System COMES einen Prototyp dafür entwickelt. Er erhebt mit Hilfe verschiedener Sensoren individuelle Daten und funkt sie an eine Datenbank. Dort werden sie verarbeitet und ausgewertet. Überschreitet ein Wert die vorgegebenen Grenzwerte, alarmiert das System per Handy automatisch den behandelnden Arzt oder den zuständigen Pflegedienst.
So kann man beispielsweise Puls und Blutdruck überwachen, aber auch über den Hautwiderstand feststellen, ob die Person genügend getrunken hat. Ebenso kann das Gerät Blutzuckerwerte weiterleiten oder das Gewicht überwachen. Wichtig dabei ist stets, dass der Patient die Daten freigeben muss, er wird also nie zwangsweise überwacht. Denn COMES ist so konzipiert, dass der Nutzer einerseits über eine Datenbank seine medizinischen Daten kontrollieren und diese bei Bedarf für den Arzt freigeben kann, andererseits über Feedbacksysteme selbst zusätzliche Informationen erhält.
Der Arzt hingegen ist in der Lage, mit COMES ausgestattete Patienten in der Therapie zu verfolgen, bei entsprechender Datenlage vorsorglich einzugreifen oder im Falle seiner Verhinderung oder Abwesenheit über das medizinische Zentrum Interventionen zu veranlassen. "Wir haben in einer ganzen Reihe von Studien ermittelt, dass sich die Patienten durch die regelmäßige sensorische Begleitung sicherer und trotzdem unabhängiger fühlen", sagt Professor Wolf. Nun soll das Gerät von einer Ausgründung vermarktet werden. In der praktischen Erprobung hat COMES bereits interessante praktische Ergebnisse erbracht. So konnten die Forscher beispielsweise zeigen, dass bestimmte Musikstücke oder Klangmuster bei vielen Patienten blutdrucksenkend wirken.
Ein anderes Beispiel ist die intelligente Zahnschiene namens SensoBite. Es handelt sich um eine Beißschiene, wie sie vom Zahnarzt bei nächtlichem Zähneknirschen verordnet wird. In ihr ist ein piezoelektrisches Sensorsystem integriert, das die Kaubewegungen misst. Ein Funktransmitter sendet die Messdaten drahtlos an einen Empfänger, der die Größe einer Streichholzschachtel besitzt und sich am Schlafplatz oder am Körper des Patienten befindet. Über eine USB-Schnittstelle können die gespeicherten Daten auf den Computer des behandelnden Arztes übertragen werden oder per Biofeedback dem Schläfer unmittelbar ein Vibrationssignal geben. So kann entweder der Arzt die Ursachen des Knirschens analysieren oder der Patient sich das Knirschen direkt abgewöhnen.
Augmented Reality – Operieren mit Datenhelm
Neben den biochemischen und genetischen Daten stellen Bilddaten aus den unterschiedlichsten Untersuchungen eine weitere wichtige Säule der digitalen Medizin dar. Professor Nassir Navab vom Lehrstuhl für Informatikanwendungen in der Medizin & Augmented Reality entwickelt beispielsweise zusammen mit mehreren Teams aus Informatikern und Ärzten Anlagen, mit denen ein Chirurg während der OP ins Innere des Patienten blicken kann.
Bisher gibt es für den Chirurgen nur den Blick von außen, wenn er zum Schnitt ansetzt, beispielsweise um gesplitterte Knochen wieder zusammenzufügen. Die Röntgenbilder hängen an der Wand, das heißt, er muss die Daten in seinem eigenen Gehirn zusammenführen und die Schnitte entsprechend planen. In Zukunft bekommt der Chirurg die genaue Lage der Knochenfragmente in eine Datenbrille eingeblendet. Er kann damit sehr viel präziser navigieren, und das System kann ihn beispielsweise warnen, wenn er zu nahe an ein Blutgefäß oder eine Nervenbahn kommt.
Um das technisch zu verwirklichen, überlagern die Forscher die realen Bilder des Patienten millimetergenau mit den vorher gemachten dreidimensionalen Computertomografie-Aufnahmen. Dazu muss der Computer die Position des Chirurgen und seiner Instrumente räumlich registrieren, damit die Perspektive stimmt, auch wenn der Operateur sich bewegt. Ein Kamerasystem erfasst dazu alle Positionen. Die Synthese funktioniert über eine hochpräzise räumliche Aufbereitung der verschiedenen digitalisierten Daten.
In die Datenbrille sind zwei Farbkameras integriert, die das Livebild aufnehmen. Sie sind leicht versetzt angebracht – wie zwei Augen. Dadurch wird das zusammengesetzte Bild beider Kameras dreidimensional. Das System muss jede Bewegung des Chirurgen in Echtzeit wiedergeben können, ein leistungsfähiger Computer ist daher essentiell. Für den Chirurgen entsteht in der Datenbrille der Eindruck, als blicke er durch die Haut hindurch in die verschiedenen Schichten des Körpers, dreidimensional und farbig. Was wie Science-Fiction anmutet, befindet sich schon in der Erprobung.
"Unser Ziel ist ein System, das dem Arzt während der OP ein dreidimensionales Bild des Körperinneren und seiner Instrumente zeigt – und zwar nicht auf einem zusätzlichen Bildschirm, sondern direkt beim Blick auf den Patienten", sagt Professor Navab. "Natürlich muss das System leicht bedienbar sein und nicht zu viel störende Technik beinhalten. Das testen wir regelmäßig mit unseren Kollegen aus der Chirurgie."
Medizininformatik: Effiziente Nutzung medizinischer Daten
Die Datenflut im medizinischen Bereich nimmt täglich weiter zu. "In wenigen Jahren werden wir die individuellen Genomdaten von vielen Millionen Menschen kennen", sagt Hans-Werner Mewes. "Ohne effiziente Verfahren der Bio- und medizinischen Informatik wird man sie nicht nutzen können." Trotzdem reichen die Daten für manche Zwecke noch immer nicht aus. "Heute betrachtet jeder Arzt immer nur seine eigenen Patienten", so der Forscher. "Gerade bei der Bewertung von Medikamenten und Therapien wäre es aber wichtig, wenn man Vergleichsdaten über den Verlauf bei möglichst vielen Patienten hätte, denn Faktoren wie Alter, Stoffwechsel und Genetik bestimmen den Behandlungserfolg. Dazu müsste man Systeme installieren, die derartige Informationen erfassen und auswerten, weg von der klassischen Studie, hin zur alltäglichen Praxis."
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