Lebensmittelforschung in Singapur
Proteine für die Megacity
Dr. Oliver Watkins öffnet die Tür der Growth Chamber, eines geschlossenen Pflanzkastens, so hoch wie ein Familienkühlschrank. Darin wachsen Sojapflänzchen in violettes Licht getaucht, ordentlich in Reihen, auf vier übereinanderliegenden Etagen. „Meine Kollegen können hier die Zufuhr von Licht, Wasser und Dünger genau steuern und so das Wachstum der Pflanzen exakt kontrollieren. Pestizide sind nicht notwendig“, sagt der Chemiker bei seiner Tour durch das Labor im CREATE Tower, einem Forschungshochhaus im Südwesten von Singapur. „Der entscheidende Vorteil ist, dass Vertical Farming so wenig Platz benötigt.“
Hightech-Metropole mit knappen Ressourcen
In Singapur leben rund 5,7 Millionen Menschen auf einer Fläche der Größe Hamburgs. Die südostasiatische Metropole verfügt kaum über Ackerland: Aufgrund von Wohnungsbau und Infrastrukturprojekten ist die landwirtschaftliche Fläche auf zuletzt ein Prozent gesunken. Als Antwort darauf hat sich die Regierung Singapurs zum Ziel gesetzt, dass bis 2030 ein Drittel der hier konsumierten Nahrungsmittel auch vor Ort erzeugt werden soll, 2019 waren es noch weniger als 10 Prozent. Damit soll die Abhängigkeit von Importen, Lieferengpässen und Preisschwankungen auf dem internationalen Lebensmittelmarkt verringert werden. Das Land investiert hohe Fördersummen in Forschungsprojekte zu nachhaltiger Aquakultur, urbaner Landwirtschaft und neuen Lebensmitteltechnologien.
Lebensmittel vom Ergebnis her gedacht
Eines der Projekte: Proteins4Singapore. In diesem arbeiten rund 40 Forschende von TUMCREATE, der Nanyang Technological University und weiteren Partnerinstitutionen an proteinreichen Lebensmitteln, die wie Fleisch oder Tofu verwendet werden könnten. „Wir versuchen nicht, bekannte Lebensmittel zu optimieren, sondern gehen vom Ziel aus und fragen uns: Was wollen wir herstellen und mit welchen Rohstoffen und Verfahren lässt sich das am besten erreichen?“, sagt Thomas Becker, Projektleiter und Professor für Brau- und Getränketechnologie. Reverse Food Engineering heißt diese Herangehensweise in der Lebensmittelforschung. „Unser Ziel ist ein gesundes, proteinreiches Lebensmittel, das den Menschen hier in Singapur gut schmeckt und sich möglichst nachhaltig vor Ort herstellen lässt. Es soll wie Huhn schmecken und auch beim Hineinbeißen in Textur und Konsistenz daran erinnern“, sagt Becker.
Die Forschenden rollen den Prozess der Lebensmittelherstellung von hinten auf, suchen nach geeigneten Rohstoffen und Anbaumethoden und experimentieren mit verschiedenen Verarbeitungsprozessen – von der Hydrolyse über die Fermentation bis zum 3D-Druck. „Das Besondere an unserem Projekt ist die breite Herangehensweise: Das Team deckt den gesamten Herstellungsprozess ab und bringt ganz unterschiedliche Perspektiven mit – von den Agrarwissenschaften über die Lebensmittelchemie und -technologie bis hin zur Sensorik“, sagt Prof. Becker.
Nur wenn man weiß, wie Geschmack auf molekularer Ebene entsteht, kann man ihn auch gezielt beeinflussen.
Doktorandin
Algen, die nach Huhn schmecken
Für den Geschmack des gesuchten Proteinprodukts ist auch Nadyssa Willanda zuständig. Sie promoviert bei Prof. Corinna Dawid an der TUM School of Life Sciences und forscht an Algen, neben Soja eine der wichtigsten Ausgangsressourcen für alternative Proteinprodukte. Sie lassen sich in sogenannten Fotobioreaktoren produzieren und benötigen als Nährsubstanz lediglich eine Stickstoff- und Phosphorquelle sowie Spurenelemente. „Dafür identifizieren und quantifizieren wir in einem ersten Schritt die geschmacks- und geruchsaktiven Komponenten der Mikroalgenmasse“, erklärt Nadyssa Willanda.
In einem zweiten Schritt werden die Wachstums- und Extraktionsbedingungen derart beeinflusst, dass die aus den Algen gewonnenen Proteine in der sinnlichen Wahrnehmung des Produktes, also der Sensorik, Hühnerfleisch ähneln. „Nur wenn man weiß, wie Geschmack auf molekularer Ebene entsteht, kann man ihn auch gezielt beeinflussen“, sagt Willanda. „Beispielsweise indem man die Produktionsbedingungen anpasst oder Enzyme zugibt.“
Dass das fertige Proteinprodukt in Singapur später auch angenommen wird, kann sich die aus Indonesien stammende Forscherin gut vorstellen: „Soja- und Algenprodukte gehören seit jeher zur südostasiatischen Küche.“ Aber die Menschen Singapurs stehen auch Einflüssen anderer Esskulturen offen gegenüber. Bestes Beispiel dafür sind die Hawker Centres: In den zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörenden Food Courts treffen Einflüsse aus der chinesischen, malaiischen und indischen Küche zusammen.
Kleines Land, große Ideen
Vielfalt auf engstem Raum – das gilt in Singapur laut Michael Rychlik auch für die Forschung. „Singapur ist ein akademischer Hub. Zahlreiche internationale Top-Universitäten haben hier ein Standbein. Das Land versteht es, Forschende auf Spitzenniveau aus der ganzen Welt anzuziehen“, sagt der Professor für Analytische Lebensmittelchemie, der bei Proteins4Singapore für Aspekte der Lebensmittelsicherheit zuständig ist. Neben seiner Forschung unterrichtet er seit mehreren Jahren auch bei TUM Asia, dem Lehrcampus der TUM in Singapur. Moderne Unterrichtsräume, ein hoher Grad an Digitalisierung und das begeisterte Engagement der Lernenden haben ihn in dem Stadtstaat immer wieder beeindruckt. „Singapur ist ein äußerst wettbewerbsorientiertes Pflaster“, stellt Prof. Rychlik fest und fügt hinzu: „Aber die Tatsache, dass sich alles auf so engem Raum abspielt, führt auch fast automatisch zur Kooperation und Interdisziplinarität.“
„Singapur ist so klein. Man kommt leicht mit anderen Forschungsthemen in Berührung und wird wahrhaft zum Allrounder“, sagt auch Oliver Watkins, der gemeinsam mit Kolleg:innen von TUMCREATE für die analytischen Messinstrumente, wie hochauflösende Massenspektrometer, zuständig ist. Er schätzt den breiten Ansatz des Projekts Proteins4Singapore: „Hier arbeiten Menschen aus aller Welt und aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zusammen – das finde ich unglaublich inspirierend.“
TUMCREATE wurde 2010 als Forschungscampus gegründet, um Forschungskooperationen zwischen Singapur und der TUM zu fördern. Als Teil des von der National Research Foundation Singapore geförderten Campus for Research Excellence and Technological Enterprise (CREATE) hat die TUM die Möglichkeit, auf Forschungsmittel aus Singapur zurückzugreifen und mit lokalen Institutionen sowie mit weltweit führenden Universitäten zusammenzuarbeiten. In enger Wechselwirkung mit Lehre und Weiterbildung bei TUM Asia – dem Lehrcampus der TUM in Singapur – arbeiten Forschende neben dem Projekt Proteins4Singapore auch in den Bereichen Elektromobilität, Medizintechnik und nachhaltige Energiesysteme.
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