Im Gespräch mit dem Gründer von Sailsetters, einem TUM Student Club für Bildungsgerechtigkeit
„Gute Bildung kann ein ganzes Leben verändern“

Können Sie sich kurz vorstellen: Wer sind Sie und was hat Sie dazu motiviert, die Sailsetters zu gründen?
Ich bin Johannes Michalke, 22 Jahre alt, und studiere im sechsten Semester Informatik an der TUM. Schon im ersten Semester fiel mir auf, mit welcher Leidenschaft viele Studierende sich in Student Clubs engagieren. Ich wollte diese Energie für ein Thema nutzen, das mir am Herzen liegt: Bildungsgerechtigkeit.
Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Und wenn Menschen nach Leistung bewertet werden, sollten alle die gleichen oder zumindest ähnliche Startchancen haben. Dafür ist Bildung essenziell wichtig. Denn gute Bildung hat einen riesigen Hebel: Sie kann ein ganzes Leben verändern.
In München gibt es viele Organisationen, die sozioökonomisch benachteiligten Kindern und Jugendlichen helfen – doch oft fehlt es an Personal. Da kam mir die Idee: Wir Studierenden könnten ehrenamtlich unterstützen. Also habe ich im Sommersemester 2023 den Verein gegründet.
Warum heißt der Student Club Sailsetters und was macht seine Arbeit besonders?
Der Name ist eine Metapher: Wir wollen Menschen dabei helfen, ihre Segel fürs Leben zu setzen. Es geht nicht darum, sie ihr ganzes Leben lang zu begleiten, sondern ihnen den Start zu erleichtern, damit sie selbst lossegeln können. Bildung ist für uns der Schlüssel dazu.
Unser Ziel ist es, Kindern und Jugendlichen aus sozioökonomisch benachteiligten Familien einen besseren Zugang zu Bildung zu ermöglichen, damit sie ein selbstbestimmtes Leben führen können. Was uns verbindet, ist unser starkes Gemeinschaftsgefühl: Wir sind ein Verein, in dem Studierende wirklich vor Ort sind und mitbekommen, was passiert.
In welchen Projekten engagieren sich die Sailsetters?
Aktuell laufen vier Projekte. Wir unterstützen Lichtblick Hasenbergl, eine Einrichtung, die Kinder eins zu eins betreut. In der Projektwoche Naturwissenschaften machen wir mit Kindergartenkindern Experimente, zum Beispiel einen Ballon aufblasen, um damit ein kleines Auto fahren zu lassen. Dann bieten wir Übertrittsnachhilfe für Schülerinnen und Schüler der dritten und vierten Klasse an. Außerdem haben wir die Kinderuni: Hier wollen wir Schülerinnen und Schüler mit Vorträgen zu spannenden Themen begeistern, die über den normalen Unterrichtssoff hinausgehen. Zum Beispiel erklären wir, wie eine Rakete funktioniert. Ein weiteres Projekt, Wellenbrecher, startet im Herbst für Hauptschülerinnen und -schüler, die wir mit Workshops zur Berufsorientierung begleiten werden.
Wie erleben Sie Diversität in Ihrer Arbeit für die Sailsetters?
Ich studiere Informatik, was kein besonders diverser Studiengang ist. Natürlich gibt es auch Frauen in der Informatik, aber der Großteil sind Männer, und viele denken recht ähnlich. Für mich ist das Großartige an Diversität, dass ganz andere Denkweisen entstehen – dank der verschiedenen Blickwinkel, die Menschen durch ihre Lebensgeschichte mitbringen. Wenn man diese Vielfalt vereint, entstehen immer bessere Lösungen, als wenn alle in die gleiche Richtung denken.
Bei den Sailsetters sind fast alle Fachrichtungen vertreten: Medizin, Jura, BWL, VWL, Pädagogik, Germanistik, Informatik, Maschinenwesen, Mathematik und viele mehr. Auch die Arbeit vor Ort mit den Kindern und Jugendlichen hat mir neue Perspektiven eröffnet. Ich habe andere Lebensrealitäten kennengelernt, mit denen ich sonst kaum in Kontakt gekommen wäre. Diese Erfahrung hat mich auch bescheidener gemacht. Diversität birgt ein enormes Potenzial, das man aktiv nutzen und bewusst einbeziehen sollte.
Gibt es ein Erlebnis, das Sie besonders berührt oder beeindruckt hat?
Sehr beeindruckt haben mich die Gespräche mit der Einrichtung Lichtblick Hasenbergl, die Kinder vom Kindergartenalter bis zum Abschluss der Ausbildung sehr intensiv betreut. Dort habe ich gelernt, wie wichtig es ist, junge Menschen während der Ausbildung zu unterstützen. Oft arbeiten beide Eltern den ganzen Tag, und die Jugendlichen übernehmen quasi eine Elternrolle, weil sie sich um ihre kleinen Geschwister kümmern.
Diese Verantwortung ist enorm – und von außen oft unsichtbar. Der Lehrbetrieb sieht dann nur, dass jemand häufig fehlt oder krank ist, aber dahinter steckt oft, dass die Person auch zuhause sehr viel leisten muss. Gleichzeitig spielen die Erwartungen anderer eine große Rolle. Wenn zum Beispiel niemand in deinem Umfeld jemals dachte, dass du eine Ausbildung machen würdest, kommst du vielleicht gar nicht erst auf die Idee, es zu versuchen.
Es gibt eine eindrückliche Statistik, die Akademikerkinder und Nicht-Akademikerkinder vergleicht: Wer macht Bachelor, Master oder einen PhD? Die Unterschiede sind stark davon abhängig, welchen Bildungsweg die Eltern gegangen sind.
Gab es während Ihrer Arbeit auch schwierige Situationen und wenn ja, wie haben Sie diese gemeistert?
Es war nicht immer ganz einfach. Ich habe versucht, die Kinder und Jugendlichen zu motivieren, ohne ihnen von außen etwas aufzudrängen. Man fühlt sich verantwortlich, hat aber gleichzeitig nicht der Rolle eines Erziehers oder einer Erzieherin. Geholfen hat mir, dass ich auf Augenhöhe mit den Kindern war, weil ich in einem ähnlichen Alter bin.
Die Vereinsarbeit war fast noch herausfordernder. Ich habe gelernt, dass Verantwortung nur funktioniert, wenn man auch Gestaltungsfreiheit gibt. Je mehr mir das gelungen ist, desto schöner war es zu sehen, wie Leute sich für ihre Bereiche engagieren. Das erste Jahr war viel Organisation. Im zweiten Jahr ging es darum, Leuten zu zeigen, dass sie etwas können, dass sie es schaffen, aus ihrer Komfortzone herauszutreten – etwa, wenn sie vor 500 Leuten in einer Vorlesung sprechen. Diese Momente waren für mich sehr wertvoll: Ich hatte das Gefühl, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass andere wachsen, Neues entdecken und mutiger werden.
Was bedeutet Bildungsgerechtigkeit für Sie persönlich?
Absolute Gleichheit ist ein Idealbild, das wir nie ganz erreichen werden. Aber es ist Aufgabe des Staates, ein Niveau zu schaffen, das gleiche Chancen ermöglicht. Am Anfang habe ich mich gefragt, ob ich mich politisch engagieren sollte. Doch für mich war der Gedanke, direkt vor Ort zu helfen, greifbarer: Man kann unmittelbar spüren, welchen Impact man hat.
Dennoch braucht das Thema mehr politische Aufmerksamkeit. Es ist wichtig, dass unsere Gesellschaft gerecht ist. Ein noch größeres Argument ist, dass wir als Gesellschaft unfassbar viel Potenzial verschwenden. Wie viele großartige Ingenieure, Medizinerinnen, Künstler oder Handwerkerinnen gehen verloren, weil wir ihnen keine Chancen geben?
Ökonomisch gesehen ist es deshalb der richtige Schritt, in Bildung und Chancengleichheit zu investieren. Jeder in Bildung investierte Euro ist wertvoll – weil sich die Wirkung ein Leben lang auszahlt. Bildungsgerechtigkeit ist deshalb nicht nur eine Frage von Fairness, sondern auch eine ökonomisch sinnvolle Investition.
Und wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
Ich glaube, ein großer Knackpunkt ist das dreigliedrige Schulsystem, bei dem Kinder nach der vierten Klasse auf verschiedene Schularten verteilt werden. Dabei sagt die Einordnung in so einem jungen Alter noch gar nichts darüber aus, was man später erreichen kann. Ich finde es problematisch, dass das Schulsystem so früh darüber entscheidet, welchen Weg ein Kind gehen wird.
Generell finde ich, sollte man hinterfragen, ob es notwendig ist, schon in der Grundschule Noten zu vergeben. Klar muss man irgendwann Vergleichbarkeit schaffen, aber es geht auch um das Wie. Man sollte sich bewusst machen, welches Bild man den Kindern über sich selbst vermittelt.
Ein anderes großes Thema ist aus meiner Sicht der Deutschunterricht – gerade für Kinder, die nicht mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen. Viele Probleme im Bildungssystem hängen genau damit zusammen. Wenn man die Sprache noch nicht richtig beherrscht, ist es natürlich schwierig, dem Unterricht zu folgen. Daher muss man sehr früh ansetzen. Die Sprache wirklich lernen zu können, ist wahrscheinlich das Wichtigste überhaupt.
Sie stehen kurz vor Studienabschluss und haben Ihr Amt als Vorstandsvorsitzender inzwischen abgegeben: Was nehmen Sie aus Ihrer Zeit bei den Sailsetters mit?
Mein größtes Learning aus der Zeit ist: Es ist so viel möglich, wenn man sich engagiert und einfach loslegt. Für mich war es eine große Erfahrung von Selbstwirksamkeit – und ich habe gemerkt, wie viel Spaß es mir macht, andere zu empowern.
Wenn man viel leisten kann, auf gute Universitäten gehen darf – ich werde jetzt zum Beispiel meinen Master in Oxford machen – dann ist das natürlich toll. Aber ich glaube auch, dass mit diesem Privileg eine soziale Verantwortung einhergeht: Man sollte etwas Sinnvolles mit den eigenen Möglichkeiten anfangen und der Gesellschaft etwas zurückgeben.
Und was möchten Sie den Kindern und Jugendlichen, die Sie begleitet haben, mitgeben?
Ich glaube, vor allem, dass sie an sich selbst glauben können. Dass sie tolle Menschen sind und dass sie all die Dinge erreichen können, die sie sich vornehmen – auch wenn ihr Umfeld ihnen vielleicht etwas anderes einredet. Sie sind besser und stärker, als sie selbst oder andere glauben!
Angebote zur Studienorientierung: ExploreTUM
Technische Universität München
- Natalie Neudert – TUM CST Communications
- natalie.neudert @tum.de