TUM-Team veröffentlicht neue Fakten über den Extremwerttheoretiker Emil J. Gumbel
Mathematiker und Chronist politischer Morde
Geboren als erster Sohn einer Bankiersfamilie im Münchner Stadtteil Lehel, trat Gumbel, dessen Methoden zur Extremwertberechnung bis heute eine wichtige Rolle spielen, schon als junger Mann dem Militarismus und einem reaktionären Justizsystem mit Methoden der Statistik entgegen. Seine wissenschaftlichen Analysen von Gerichtsverfahren der Weimarer Republik machen ihn zum Vorreiter des modernen Datenjournalismus. Wegen seiner politischen Publikationen wurde er bald verfolgt und ausgebürgert.
„Angesichts seines vielschichtigen Werkes, seines durch zweifache Emigration gebrochenen Lebenswegs und nicht zuletzt der zeitlichen Entfernung, war unsere Suche nach neuen Dokumenten über Gumbel ein anspruchsvolles Unterfangen“, sagt Matthias Scherer, Professor am Lehrstuhl für Finanzmathematik der TUM, über das Projekt.
Es hat ihn und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Lexuri Fernández in den vergangenen drei Jahren auf den Spuren der Lebensstationen Gumbels durch Europa und in die USA als seiner letzten Station geführt. „An Orten seines Schaffens haben wir Zeitzeugen oder deren Nachkommen aufgespürt und in Archiven neue Dokumente gefunden“, sagt Scherer.
Berechnung extremer Ereignisse
Im Fachmagazin „Extremes" stellt der TUM-Wissenschaftler neue Details zur Personalie Gumbel vor. Darin sind auch Auszüge aus einem Interview mit Professor Tuncel Yegulalp veröffentlicht, der Gumbel noch als Hochschullehrer an der Columbia Universität im New Yorker Exil erlebt hat. Yegulalp schildert die anspruchsvolle Ausbildung durch Emil Gumbel, die prägend für seinen eigenen Lebensweg und die Erforschung starker Erdbeben wurde.
Gumbels Methoden werden bis heute in verschiedenen Gebieten eingesetzt: Bei der Planung von Dämmen und Deichen, für die Ermittlung von Materialbruchstärken sowie im Finanz- und Versicherungswesen, wenn Versicherungsprämien für seltene aber schwere Verluste berechnet werden müssen, beispielsweise für Katastrophen wie die Hurrikane Harvey, Irma und Maria.
Statistik des politischen Mordes
„Die wissenschaftliche Herangehensweise ist typisch für Gumbels politische Schriften“, erklärt Scherer. „Charakteristisch für seine Publikationen ist die Argumentation mit statistischen Analysen, die oft unkommentierte Dokumentation von Fakten und damit einhergehende wissenschaftliche Sachlichkeit“, beschreibt der Finanzmathematiker den Stil der Zeitungsartikel, Zeitschriftenaufsätze und Bücher, die Gumbel ohne Rücksicht auf persönliche Nachteile in den 1920er-Jahren veröffentlicht hat.
Mit Hilfe statistischer Auswertungen seiner Zeitungs- und Gerichtsdatenbank publizierte er schon zu Beginn der 20er Jahre die schnell vergriffenen Bücher „Zwei Jahre Mord“ und später „Vier Jahre politischer Mord“. „Sie belegen die rechtskonservative Tendenz, der die Justiz in dieser Zeit verfallen war“, sagt Scherer. Gumbels Statistik zufolge blieben in der frühen Weimarer Republik von 354 politischen Morden aus dem rechten Lager 326 ungesühnt, seitens der 22 linken Kapitalverbrechen vier.
Der „Fall Gumbel“
Auch nach seinem Eintritt in die Ruprechts-Karls-Universität in Heidelberg im Jahr 1923 setzte Gumbel seine publizistischen und pazifistischen Aktivitäten fort. Als er 1924 mit dem Buch „Verschwörer“ eine investigative Recherche über militärische Geheimbünde veröffentlicht hatte, wurde er wegen Landesverrats angeklagt. Dies stellte sich vor Gericht als haltlos heraus, da er ausschließlich belegbare Fakten dokumentiert hatte.
Als Gumbel in einer Rede auf einer Veranstaltung der Deutschen Friedensgesellschaft zum zehnten Jahrestag des Kriegsbeginns vom „Felde der Unehre“ sprach, zog dies einen Sturm der Empörung bei national-konservativen Akademikern und ein Disziplinarverfahren nach sich.
Frühe Ausbürgerung rettete Gumbels Leben
„Sein Schicksal wurde besiegelt, als er bei einem Vortrag in Gedenken an die 700.000 Hungertoten im Winter 1916/17 anmerkte, dass eine Kohlrübe wohl besser als Denkmal geeignet wäre, als eine leichtbekleidete Jungfrau mit Siegespalme“, sagt Professor Scherer. Dieser Spruch habe schon seit geraumer Zeit zu seinem Repertoire auf pazifistischen Kundgebungen gehört, und, obwohl er wusste, dass zwei Nazispitzel unter den Zuhörern waren, habe Gumbel nicht auf ihn verzichten wollen.
Erneut gab es eine Welle der Empörung, Aufruhr und Morddrohungen. Letztlich wurde er im Sommer 1932 entlassen. „Möglicherweise rettete das aber sein Leben, denn in Frankreich, das er als Exil wählte, war er zunächst vor Verfolgung sicher“, sagt Scherer. „Er war der einzige Wissenschaftler auf der ersten 'Ausbürgerungsliste' und war darauf später sehr stolz.“
Mit der Veröffentlichung im Fachmagazin „Extremes“ ist für Scherer und seine Mitarbeiterin Fernández die Personalie Gumbel noch lange nicht abgeschlossen: Zusammen mit Prof. Annette Vogt vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Dr. Isabella Wiegand von der TUM planen sie für das kommende Jahr im November eine Ausstellung in Gumbels Geburtsstadt München. Dafür nehmen die Wissenschaftler gerne noch weiteres Material entgegen.
Vortrag am Tag der offenen Tür:
Weitere Einblicke in die spannende Lebensgeschichte von Emil J. Gumbel gewährt Prof. Scherer in seinem Vortrag beim Tag der offenen Tür des Forschungscampus Garching am Samstag, 21. Oktober 2017.
Publikation:
Lexuri Fernández und Matthias Scherer: Emil J. Gumbel’s last course on the “Statistical theory of extreme values”: a conversation with Tuncel M. Yegulalp, Extremes (2017), DOI: 10.1007/s10687-017-0299-z
Kontakt:
Prof. Dr. Matthias Scherer
Technische Universität München
Lehrstuhl für Finanzmathematik
Parkring 11-13, 85748 Garching, Germany
Tel.: +49 89 289 17402 – E-Mail – Web
Technische Universität München
Corporate Communications Center
- Dr. Andreas Battenberg
- battenberg @zv.tum.de
- presse @tum.de
- Teamwebsite