• 20.9.2024
  • Lesezeit: 4 Min.

Erneuerbare Energien könnten zerstörte Kapazität übertreffen

Wie die Ukraine ihr Energiesystem neu aufbauen kann

Das Potenzial für erneuerbare Energien ist in der Ukraine deutlich größer als die Kapazität der Stromerzeugung, die im Krieg zerstört wurde. Dies zeigt eine Studie, für die ein internationales Forschungsteam zunächst die bislang umfassendste Kartierung der zerstörten Energieinfrastruktur erstellt hat. Zudem ermittelte das Team, in welchen Regionen des Landes wie viel Strom mit Windkraft- und Photovoltaikanlagen erzeugt werden könnte. Die Studie kann als Grundlage für einen Neuaufbau eines krisenresistenteren Energiesystems dienen.

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Iryna Doronina forschte vor dem Krieg an der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kyjiw und ist jetzt Gastprofessorin an der TUM.

Die Energieinfrastruktur zählt zu den Hauptzielen der russischen Angriffe auf die Ukraine. Das Ausmaß der Zerstörung ist enorm, war aber noch nicht gänzlich untersucht worden. Ein Forschungsteam um Florian Egli, Professor für Public Policy for the Green Transition, und Iryna Doronina, Gastprofessorin am Lehrstuhl für Energiesysteme, hat deshalb die erste umfassende Kartierung des ukrainischen Stromerzeugungssystems vor dem Angriff 2022 und der folgenden Zerstörung im Krieg erstellt. Egli und Doronina, die vor dem Krieg Dozentin an der Nationalen Wirtschaftsuniversität Kyjiw war, hatten das Forschungsprojekt an der ETH Zürich begonnen, gemeinsam mit dortigen Forschungsgruppen, Forschenden in der Ukraine und weiteren Partnerinnen und Partnern.

Im ersten Schritt erstellten die Forschenden eine detaillierte Karte der ukrainischen Energieinfrastruktur vor 2022, mit mehr als 1.600 Objekten und Informationen zu Anlagen, Standorten, Leistung, Produktion und Verbrauch. Mit 59 Gigawatt installierter Kraftwerksleistung zählte die Ukraine zu den größten Energieproduzenten in Europa. Das Land selbst benötigte 22 Gigawatt.

95 Prozent der thermischen Kraftwerke zerstört

Anschließend erfassten die Forschenden Daten über die Zerstörungen. „Wir stellen fest, dass seit Februar 2022 praktisch alle großen, zentralisierten Kraftwerke angegriffen wurden. Dadurch sank die gesamte Stromproduktionskapazität auf etwa ein Drittel des Vorkriegsniveaus. Und auch das Netz wurde durch Angriffe auf Übertragungsleitungen und Umspannwerke besonders im Osten erheblich geschwächt“, sagt Tobias Schmidt, Professor für Energie- und Technologiepolitik und Leiter des ETH-Instituts für Wissenschaft, Technologie und Politik (ISPT). „Ein Jahr nach dem Beginn des Kriegs waren 76 Prozent der thermischen Kraftwerke zerstört, inzwischen sind es 95 Prozent“, ergänzt Iryna Doronina. „Und auch sämtliche großen Wasserkraftwerke sind ausgefallen.“

Eine wichtige Rolle spielt in der Ukraine die Kernkraft. Saporischschja, Europas größtes Kernkraftwerk im Südwesten der Ukraine, wurde von russischen Truppen besetzt und liefert seit September 2022 keinen Strom mehr. Drei Kernkraftwerke im Osten und Süden mit sieben Reaktoren blieben in Betrieb und versorgen die Ukraine weiterhin mit Strom. Allerdings greift Russland immer wieder das Verteilernetz an, was zu stundenlangen Stromausfällen führt.

Potenzial erneuerbarer Energien von 219 Gigawatt

Für ihre Empfehlungen für den Wiederaufbau der Infrastruktur nahm das Forschungsteam deshalb eine dezentralisierte Stromversorgung in den Blick. „Ein zentralisiertes System lässt sich einfacher angreifen, wohingegen voneinander unabhängige Anlagen kriegs- und krisenresistenter sind“, sagt Doronina. „Für eine solche dezentrale Infrastruktur eignen sich besonders erneuerbare Energien wie Solar- und Windkraftanlagen“, ergänzt Florian Egli. „Sie lassen sich außerdem viel schneller installieren als zentrale konventionelle Anlagen.“

Doch gibt es in der Ukraine genügend Potenzial für einen Fokus auf erneuerbare Energien? Um diese Frage zu beantworten, erstellten die Forschenden detaillierte Karten für verschiedene Regionen der Ukraine, die abbilden, in welchen Gebieten die Erzeugung von Solar- und Windenergie am günstigsten ist. Das Team berücksichtige dabei verschiedene Kriterien wie Höhe und Topografie, Bevölkerungsdichte, Entfernung zu Siedlungen oder Stromnetzen. Auch Schutzgebiete, staatliche landwirtschaftliche Flächen und die Anforderungen und Beschränkungen der ukrainischen Gesetzgebung wurden einbezogen.

Auf dieser Grundlage schätzten die Forschenden die mögliche Energieleistung nach Regionen ein. Dieses sogenannte technische Potenzial ist enorm. So schätzen die Forschenden, dass das Potenzial der Windenergie rund 180 Gigawatt beträgt und dasjenige für Solarenergie rund 39 Gigawatt. Eine solche Gesamtkapazität von 219 Gigawatt überträfe die Produktionskapazität von 59 Gigawatt, die die Ukraine bei Kriegsbeginn erzielte, um ein Vielfaches. In allen regionalen Stromnetzen übersteigt das Potenzial der erneuerbaren Energien die im Krieg zerstörte Stromproduktionskapazität bei weitem.

Korruptions- und Investitionsrisiko verringern

Außerdem analysierten die Forschenden sozio-politische, wirtschaftliche, ökologische und technologische Faktoren, um zu bestimmen, welche Regionen für einen Übergang der Ukraine zu erneuerbaren Energiesystemen am geeignetsten sind. Das größte Potenzial für Solar- und Windenergie besteht im Süden und Osten der Ukraine.

Die Studie kann als Grundlage für einen Wiederaufbau und Umbau der ukrainischen Energieinfrastruktur dienen. Der Gemeinsamen Forschungsstelle der Europäischen Kommission wurde sie bereits vorgestellt. Die Transparenz, die sie herstellt, kann zudem das Korruptionsrisiko und das Risiko für Investorinnen und Investoren verringern.

Publikationen

Doronina, I, Arlt, M-L, Galleguillos Torresa, M, Doronin, V, Grêt-Regamey, A, Schmidt, T, Egli, F. Why renewables should be at the center of rebuilding the Ukrainian electricity system. Joule (2024). DOI: 10.1016/j.joule.2024.08.014

Technische Universität München

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Kontakte zum Artikel:

Prof. Dr. Florian Egli
Technische Universität München (TUM)
Professur für Public Policy for the Green Transition
florian.eglispam prevention@tum.de

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