Pilotprojekt zur Verzahnung digitaler und analoger Elemente
Strategien für ein neues Normal in der Lehre
Lieber Herr Professor Stahl, die Lehre an der TUM ist im Umbruch. Die TUM Lehrreform hat es sich zum Ziel gesetzt, Lehre holistisch zu verstehen und zu gestalten, um den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft begegnen zu können. Das betrifft neben vielem anderen natürlich auch die Lehrformate. Die Corona-Pandemie hat die enorm kurzfristige und umfassende Einführung von digitalen oder hybriden Lehrformen erzwungen. Auch wenn Lehrveranstaltungen zwischenzeitlich wieder in Präsenz stattfinden können, sollen die Erfahrungen der Corona-Zeit auch nach der Pandemie fruchtbar gemacht werden.
Karsten Stahl: Ja, unbedingt. Wir wollen keinesfalls einfach zum vorherigen Status zurückkehren. Das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst hatte deshalb zusammen mit der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft im vergangenen Jahr das „NewNormal“-Programm ausgeschrieben, mit dem eben ein neues „Normal“ in der Hochschullehre etabliert werden soll: analoge Lehrformate verzahnt mit digitalen. Die TUM ist eine von vier Hochschulen, die gefördert wurden. Wir haben im Mai 2022 ein Pilotprojekt gestartet und uns dabei die Entwicklung einer kompetenz- und bedarfsoptimierten Lehrstrategie vorgenommen.
Was ist darunter genau zu verstehen?
Karsten Stahl: Mit unserem Projekt wollen wir eine ganzheitliche Perspektive auf Lehrformate verankern. Im Projektteam arbeitet primär ein Mitarbeiter meines Lehrstuhls, dem Lehrstuhl für Maschinenelemente, und eine Mitarbeiterin von ProLehre | Medien und Didaktik zusammen. Unterstützt werden wir dabei von rund zehn weiteren Lehrstühlen, die an der Lehre im Maschinenbaustudium beteiligt sind. Grundgedanken des Projektes waren dabei, dass Nachteile des einen Formats durch die Vorteile eines anderen kompensiert werden sollen und zugleich die Lehrformate gezielt auf die Bedürfnisse der Studierenden und den intendierten Kompetenzerwerb eines Moduls abgestimmt werden sollen.
Alexandra Strasser: Genau, dafür orientieren wir uns bei den Studierendenbedürfnissen an den drei Grundbedürfnissen nach Deci und Ryan: soziale Eingebundenheit, Kompetenzerleben und Autonomie. Je nachdem, in welcher Studienphase sich die Studierenden befinden, steht mehr das eine oder das andere Bedürfnis im Vordergrund. Der Beginn des Studiums stellt beispielsweise einen neuen Lebensabschnitt für die Studierenden dar. Hier ist es wichtig, dass ihnen eine schnelle Integration, die Knüpfung von Kontakten und der Beziehungsaufbau zu den Lehrenden ermöglicht wird. Das kann vor allem durch Präsenzelemente, wie Vorlesungen im Hörsaal oder Diskussionen in Kleingruppenübungen, gelingen. Im weiteren Verlauf nimmt der Wunsch nach Autonomie und Kompetenzerleben zu. Asynchrone digitale Elemente wie Moodle-Lektionen, bestehend aus Videos und Zwischenfragen, haben hier ihren Vorteil. Sie geben den Studierenden zeitliche und räumliche Flexibilität, wodurch eine stärkere Selbstorganisation und -steuerung der Studierenden ermöglicht, aber auch gefordert wird.
Rudolf Motzet: Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Kompetenzoptimierung der Lehrstrategie. Denn es gibt Kompetenzen, die am besten erworben werden können, wenn sie analog oder digital vermittelt werden. Das Fertigen von Bauteilen lernt man eben am besten an der Fertigungsmaschine. Im Gegensatz dazu kann das Konstruieren mittels einer CAD-Software oder das Erstellen eines SPS-Programmes rein digital vermittelt werden.
Welche Schritte sind Sie während der Pilotphase an der TUM gegangen, um eine solche Lehrstrategie in der Praxis zu verankern?
Rudolf Motzet: Zu Beginn der Pilotphase haben wir aufbauend auf diesen Grundgedanken eine Handreichung für Lehrende ausgearbeitet. Diese definiert zunächst einmal wichtige Fachbegriffe und stellt anschließend analoge, digitale synchrone und asynchrone Lehr- und Lernelemente gegenüber. Auf dieser Basis werden Leitlinien und Empfehlungen für die Wahl und Ausgestaltung von Lehrformaten gegeben. Eine ausgearbeitete Konzeptionsmatrix stellt den Digitalisierungsgrad aller Lehrveranstaltungen eines Studiengangs dar und soll eine Abstimmung zwischen den einzelnen Modulen erleichtern und die Studierbarkeit gewährleisten. Abgerundet wird das Ganze durch eine Methodensammlung, die den Lehrenden Anregungen für die Ausgestaltung der gewählten Lehrformate geben soll, und ein umfangreiches Glossar, das eine einheitliche Begriffsverwendung garantieren soll.
Im nächsten Schritt wurden, aufbauend auf dem Projekt connecTUM, Lehrstühle für die Pilotphase gewonnen. Mit ihnen zusammen haben wir zuerst für die insgesamt zehn Module und die entsprechend 18 Lehrformate die Konzeptionsmatrix ausgefüllt und dabei die Bedürfnisse und die zu erwerbenden Kompetenzen der Studierenden für das jeweilige Modul und die Stellung im Studium berücksichtigt. Abschließend wurden den Verantwortlichen der einzelnen Module die ausgearbeiteten Unterlagen zur Verfügung gestellt. Damit konnten sie ihre Lehrveranstaltung anpassen oder sich Anregungen für die Ausgestaltung des Formats holen. Währenddessen konnten sie jederzeit Rat und Unterstützung durch die Projektverantwortlichen erhalten.
Alexandra Strasser: Um dann zu erfahren, was die Studierenden als lernförderlich und lernhinderlich empfunden haben, und ob die Berücksichtigung der Studierendenbedürfnisse und die zu erwerbenden Kompetenzen bei der Wahl des Lehrformats einen Einfluss auf die Zufriedenheit und den Kompetenzerwerb der Studierenden haben, haben wir zwei Evaluationen durchgeführt. Bei der ersten Zwischenevaluation im Dezember hatten wir leider sehr wenig Rücklauf. Die zweite haben wir dann angepasst und in die zentrale Evaluation der Lehrveranstaltungen integriert – diesmal mit sehr großer Resonanz.
Was waren die Ergebnisse der Evaluation?
Alexandra Strasser: Die Ergebnisse waren sehr interessant. Sowohl die Lehrenden als auch die Studierenden waren mit dem jeweils gewählten Lehrformat zufrieden und hatten das Gefühl, dass es für die Vermittlung der Inhalte gut geeignet ist. Die Anmerkungen und Änderungswünsche geben darüber hinaus einen Einblick, was die Studierenden als motivierend und lernförderlich oder aber als lernhinderlich empfinden. Betrachtet man die Ergebnisse weiter, lässt sich, wie vermutet, eine starke Schwankung im Austausch zwischen Lehrenden und Lernenden im Zusammenhang mit dem gewählten Lehrformat feststellen: Präsenzveranstaltungen fördern den Austausch, reine Online-Formate mindern ihn. Grundsätzlich zeigt sich in den Ergebnissen, dass sich die Studierenden im dritten Semester mehr digitale Formate wünschen als zu Beginn ihres Studiums.
Rudolf Motzet: Erstaunlicherweise zeigte sich zudem, dass das Flipped-Classroom-Format teils schlechter bewertet wurde als die anderen Formate. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass dieses Format viel Verantwortung an die Studierenden übergibt. Zudem ist es nicht so intuitiv und leicht umsetzbar und bedarf einer sehr guten Konzeptionierung. Hier wäre es für Lehrende empfehlenswert, sich bei der Ausarbeitung des Konzepts von Didaktik-Expert:innen beraten und begleiten zu lassen.
Zudem geben die Ergebnisse erste Hinweise darauf, wie wichtig es für die Studierenden ist, dass sie sich sozial eingebunden fühlen. Das bedeutet, dass man nicht nur in Präsenzveranstaltungen den Kontakt zu und zwischen den Studierenden suchen und fördern sollte, sondern auch in reinen Online-Formaten „präsent“ sein sollte. Vor allem in asynchronen digitalen Formaten, in denen eine hohe Autonomie gefordert wird, ist es gerade für schwächere Studierende wichtig, eine zentrale Ansprechperson zu haben, die ihnen bei Problemen weiterhilft und sie anleitet.
Welches Fazit ziehen Sie nach der Pilotphase – und wie geht es in den nächsten Semestern weiter?
Karsten Stahl: Die Ergebnisse aus der Pilotphase geben uns wichtige Anhaltspunkte für die Wahl und Ausgestaltung von Lehrformaten. Dabei ist es nicht nur wichtig, die Studierenden mit ihren Bedürfnissen und zu erwerbenden Kompetenzen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern es sollte ganzheitlich an die Konzeptionierung einer Lehrveranstaltung herangegangen werden.
Rudolf Motzet: Es sollte einerseits eine Bereitschaft auf Seiten der Lehrenden geschaffen werden, sich motiviert mit einer Neu- oder Umkonzeptionierung der Lehrveranstaltung auseinanderzusetzen. Dafür könnten Anreize wie personelle und finanzielle Unterstützung geschaffen werden. Darüber hinaus ist es sinnvoll, mit der Abteilung für Qualitätsmanagement von Studienangeboten an der Universität von Beginn an eng in Austausch zu sein. Und es ist eben enorm wichtig, die Studierenden zu beteiligen. Denn die haben viele konkrete Ideen, was für sie beim Lernen hilfreich oder hinderlich ist. Entsprechend vielversprechend ist es, die Sicht der Studierenden bei der Ausgestaltung von Lehrformaten mit einzubeziehen.
Technische Universität München
- Konstantin Götschel – TUM Center for Study and Teaching
- goetschel @zv.tum.de