Gute wissenschaftliche Praxis
„Die wichtigste Grundlage unserer Arbeit ist Vertrauen“
Frau Reiss, was macht eigentlich eine Ombudsperson?
Der Kern meiner Arbeit ist es, sicherzustellen, dass grundlegende Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens eingehalten werden. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen müssen zum Beispiel evidenzbasiert arbeiten und sind verpflichtet, ihre Ergebnisse zu prüfen und offenzulegen. Auch wenn das selbstverständlich scheint, kommt es immer wieder zu Konflikten. Und in solchen Fällen können sich Forschende an mich und meinen Stellvertreter, Prof. Wolfgang Domcke, wenden.
Welche typischen Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens werden an Sie herangetragen?
Oft arbeiten mehrere Personen gemeinsam an einer Publikation. Dabei können Konflikte entstehen, zum Beispiel um das Nutzungsrecht an gemeinsam erhobenen Daten. Oder es geht darum, wer wie viel zu einer Publikation beigetragen hat und damit auch um die Frage, wer und in welcher Reihenfolge als Autorin oder Autor genannt wird.
Die Zahl und Qualität der Publikationen sind entscheidende Faktoren für eine wissenschaftliche Karriere.
Publikationen waren in der Wissenschaft schon immer das Maß aller Dinge. Aber inzwischen ist der Druck, so viel wie möglich zu publizieren, gewaltig gestiegen. Es werden heute viel mehr Publikationen gefordert, um bestimmte Karriereschritte zu erreichen. Und natürlich gibt es auch Graubereiche bei der Frage, was genau ein wesentlicher Beitrag ist, der eine Namensnennung rechtfertigt. Deshalb sollten wir transparenter und realistischer darüber diskutieren, wie wissenschaftliche Leistung gemessen und gewürdigt wird. Gerade im Interesse junger Menschen, die einen wissenschaftlichen Berufsweg einschlagen. Dazu können wir mit unserer Arbeit ein Stück beitragen.
Wie gehen Sie konkret vor, wenn sich jemand mit dem Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten bei Ihnen meldet?
Wir behandeln alle Hinweise streng vertraulich und sind unparteiisch. Und ich glaube, das ist die wichtigste Grundlage unserer Arbeit: das Vertrauen. Wir sind diejenigen, die keine Information weitergehen und die alles verantwortungsvoll belegen. Wir prüfen zunächst im Gespräch mit der hinweisgebenden Person, ob sich der Verdacht erhärten lässt. Im zweiten Schritt versuchen wir, mit beiden Konfliktparteien zu reden – gemeinsam oder auch getrennt – natürlich nur im gegenseitigen Einverständnis. Sehr oft können wir dann vermitteln und eine einvernehmliche Lösung finden.
Was passiert, wenn das nicht gelingt?
Dann gibt es ein formelles Prüfungsverfahren, bei dem wir Sachverständige einbinden, die sich auch fachlich auskennen. Das Ergebnis dieses Ombudsverfahrens geht mit einem Vorschlag zum weiteren Vorgehen an den Universitätspräsidenten, der über konkrete Maßnahmen entscheidet. In den knapp zwei Jahren, die ich jetzt dabei bin, konnten wir das bisher glücklicherweise vermeiden.
Mit Programmen wie ChatGPT lassen sich mit wenigen Klicks umfangreiche Texte erstellen. Befürchten Sie, dass dadurch Plagiatsfälle zunehmen?
Sicherlich kann es sein, dass die Zahl der Fälle steigt, weil Plagiate in vielen Bereichen einfacher geworden sind. Allerdings bin ich immer optimistisch und überzeugt, dass das Verantwortungsbewusstsein der Forschenden im Allgemeinen hoch ist. In vielen Fachkulturen, zum Beispiel in der Mathematik oder in technischen Disziplinen, ist ein solcher Weg zu Ergebnissen zwar nicht völlig ausgeschlossen, derzeit wohl aber nicht ohne Weiteres möglich.
Wir sind verpflichtet, jedem Hinweis neutral und unabhängig nachzugehen. Das stärkt die Glaubwürdigkeit des wissenschaftlichen Tuns.
Ombudsperson Wissenschaft
Das Vertrauen in die Wissenschaft scheint in den vergangenen Jahren gesunken zu sein – zumindest in Teilen der Gesellschaft. Kann das Ombudswesen dem entgegenwirken?
Allein die Tatsache, dass es solche Ansprechpartnerinnen und -partner gibt, ist schon sehr wichtig: Ombudspersonen gibt es nicht nur an den einzelnen Hochschulen und Instituten, sondern auch auf Bundesebene, mit dem „Ombudsman für die Wissenschaft“, dem Gremium für gute wissenschaftliche Praxis in Berlin. Es gibt diese Stellen, an die sich jede und jeder vertrauensvoll wenden kann. Wir sind verpflichtet, jedem Hinweis neutral und unabhängig nachzugehen. Und das stärkt die Glaubwürdigkeit des wissenschaftlichen Tuns und kann der Skepsis entgegenwirken.
Welche Kompetenzen aus Ihrer beruflichen Laufbahn helfen Ihnen bei Ihrer Rolle als Ombudsperson?
Ich sage manchmal eher scherzhaft, dass mein Mathematikstudium mir wenig nützt, Psychologie wäre vielleicht besser gewesen. Bei dieser Arbeit geht es immer auch um zwischenmenschliche Aspekte, die über den wissenschaftlichen Bereich hinausgehen. Ich höre zu, versuche, beide Standpunkte zu sehen und zu vermitteln. Dabei hilft mir meine Erfahrung als Dekanin. In einer Fakultät geht es ja auch um solche Fragen: Wie wollen wir zusammenarbeiten, was machen wir bei Konflikten? Darin sehe ich die Chance des Ombudswesens: miteinander zu reden, das eigene Verhalten zu hinterfragen und Konflikte zu schlichten.
- Die Ombudspersonen Wissenschaft beraten bei Fragen zu guter wissenschaftlicher Praxis und können bei einem Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten vertraulich zu Rate gezogen werden. Sie sind – ebenso wie die Ombudsperson Respect – dem TUM Compliance Office zugeordnet, das unter der Leitung der Vice President Compliance, Prof. Angelika Görg, weisungsunabhängig die Integrität und Transparenz der TUM verantwortet.
- Als Emeritae und Emeriti of Excellence arbeiten die Ombudspersonen ehrenamtlich und unabhängig vom akademischen Tagesgeschäft und werden dabei durch eine Referentin unterstützt, die als niedrigschwellige Anlaufstelle Hinweise oder Beschwerden telefonisch oder per E-Mail entgegennimmt.
- Kristina Reiss ist Professorin für Didaktik der Mathematik im Ruhestand und Emerita of Excellence der TUM. Im August 2022 wurde sie zusammen mit ihrem Stellvertreter Prof. Wolfgang Domcke, ebenfalls Emeritus of Excellence, für drei Jahre als Ombudsperson für gute wissenschaftliche Praxis gewählt. Daneben ist Prof. Reiss in internationalen Forschungsprojekten tätig und betreut eine Lehrkooperation mit Kolumbien.
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Referentin der Ombudspersonen Wissenschaft
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