Masterstudent Nektarios Totikos im Porträt
„Bildung kann Wunder bewirken“
E-Mail um E-Mail hat Nektarios Totikos geschrieben, nach jeder Absage aufs Neue. Nach zehn Anläufen dann die Nachricht: Er darf seine Masterarbeit am renommierten Massachussets Institute of Technology (MIT) in den USA schreiben, im Juli 2023 geht der Flieger nach Boston. „Ich sehe alles als Herausforderung und lasse mich nicht beirren“, sagt Nektarios Totikos beim Online-Gespräch und lächelt in die Kamera. Im Hintergrund triste Betonwände, ab und zu rauscht die Lüftung, ein Konferenzraum wie jeder andere. Er ist trotzdem begeistert: „Für mich geht hier gerade ein Traum in Erfüllung.“
Dass dieser Traum wahr wird, dafür hat Nektarios Totikos viel getan: Er ist ein fleißiger Schüler, besteht sein Abitur mit 1,6. Nach dem Bachelor an der Universität Stuttgart wird er im Master Elektrotechnik und Informationstechnik an der TUM angenommen, spezialisiert sich auf Künstliche Intelligenz. Und jetzt das MIT. „Ich wusste immer, dass ich studieren will“, sagt der 27-Jährige, „Mein Interesse am Lernen hat mich gerettet.“
Damit meint Totikos die schwierigen Verhältnisse, in denen er im Stuttgarter Osten aufgewachsen ist: „Eine klassische Brennpunktgegend, wo viele Familien von Armut betroffen sind.“ Die Mutter erzieht Totikos und seinen älteren Bruder allein. „Ich glaube, sie war mit uns überfordert und konnte sich aus verschiedenen Gründen wenig um unsere Bildung kümmern“, sagt Totikos heute. „Aber ich hatte viele Freiheiten, das war sehr wertvoll.“ Er ist häufig draußen in der Siedlung unterwegs, mit Nachbarskindern und allein. „Ich habe sehr gerne beobachtet, die Natur und meine ganze Umgebung. Mir ging es darum, Eindrücke zu sammeln und daraus zu lernen.“
Schnell erwachsen werden
Als Nektarios Totikos zehn Jahre alt ist, beschließt seine Mutter, mit den Söhnen nach Griechenland zu ziehen, wo sie selbst einen Teil ihrer Kindheit verbracht hat. Die Kinder werden aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen, gehen zwei Monate lang nicht zur Schule, erzählt Nektarios Totikos. Er will wieder zurück nach Deutschland, er hat die Gymnasialempfehlung und das Lernen ist ihm wichtig. Mit der Hilfe einer befreundeten Nachbarin aus Stuttgart gelingt ihm die Rückkehr, sie nimmt ihn und später auch seinen Bruder bei sich auf.
Doch auf Dauer können die Kinder nicht bei der Nachbarin bleiben. Sie kommen in eine Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe, ins Kinderheim, wie Totikos sagt. Mit 16 zieht er in eine betreute Wohngruppe: Kochen, putzen, fürs Abi lernen – Aufgaben, bei denen die meisten Jugendlichen von ihren Eltern unterstützt werden, erledigen seine Mitbewohner und er selbstständig. „Ich musste sehr schnell erwachsen werden“, sagt Totikos heute. „Nach dem Auszug aus der Jugendhilfe sind viele Care-Leaver auf sich allein gestellt.“
Als Care-Leaver werden Jugendliche und Erwachsene bezeichnet, die einen Teil ihres Lebens in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, also „Care“, verbracht haben – zum Beispiel in einem Heim oder in einer Pflegefamilie. Im Jahr 2021 zählte das Statistische Bundesamt rund 210.000 junge Menschen, die außerhalb der eigenen Familie leben.
Ohne Netz und doppelten Boden
Neben finanzieller Unterstützung durch die Eltern fehlt diesen jungen Menschen oft auch ein soziales Netz. „Ich hätte mir jemanden gewünscht, um meine Zukunftspläne zu besprechen und mich bei Bewerbungen zu unterstützen.“ Zum Beispiel bei seinem Motivationsschreiben für den Studiengang Molekulare Medizin an der Universität Tübingen, sagt er. „Ich bin ganz naiv davon ausgegangen, dass meine Abiturnote ausreicht und hatte niemanden, der meine Bewerbung gegenliest.“ Totikos wird abgelehnt und entscheidet sich, in Stuttgart Elektrotechnik und Informationstechnik zu studieren.
An der Universität Stuttgart lernt er eine Handvoll Freunde kennen, ohne die er das Studium wohl nicht geschafft hätte, wie er sagt. Mit einigen von ihnen geht er zusammen für den Master an die TUM. Hier engagiert er sich in der studentischen Initiative TUM.ai, die Studierende rund um das Thema Künstliche Intelligenz vernetzt, Projekte durchführt und Workshops organisiert. Der einstige Einzelkämpfer, der allen beweisen wollte, dass er es auch alleine schaffen kann, schätzt heute die Arbeit im Team: „Man unterstützt und motiviert sich gegenseitig, weil man gemeinsam wachsen will. Das hilft dabei, Ziele zu formulieren, die vorher gar nicht möglich schienen.“
Für mich geht am MIT ein Traum in Erfüllung.
Masterstudent
Forschung zu Emotionserkennung
Wie das Ziel, seine Masterarbeit an einer der bekanntesten technischen Universitäten der Welt zu schreiben: An der Sloan School of Management des MIT untersucht Nektarios Totikos gemeinsam mit Masterstudierenden aus verschiedenen Disziplinen, wie sensibel Pflanzen auf menschliche Emotionen reagieren: Nehmen Basilikumpflanzen in ihrer direkten Umgebung starke Gefühle wie Freude oder Angst wahr, senden sie elektrostatische Signale, erklärt er. Diese Signale möchte das Team nutzen, um Rückschlüsse auf die Gemütslage von Menschen zu ziehen und mit diesem Wissen zum Beispiel deren Arbeitsumfeld zu verbessern. Totikos ist für den selbstlernenden Algorithmus zuständig, der die Emotionen der Mitarbeitenden vorhersagen soll.
„Ich bin mit dem Gedanken aufgewachsen, dass ich als Mensch wertvoll bin, wenn ich gute Noten habe. Das war ein Schutzmechanismus“, sagt Totikos. Inzwischen findet er, dass Noten nicht das Wichtigste sind und es im Leben nicht nur um Karriere geht. Deshalb will er nach seiner Masterarbeit in Ruhe überlegen, wie es beruflich weitergehen soll und, wenn es die Finanzen erlauben, noch die Ostküste der USA bereisen. „Jetzt habe ich zum ersten Mal die Möglichkeit, zu verschnaufen. Es hat sich alles gefügt und dafür bin ich megadankbar.“
Anderen Mut machen
Lange hat Nektarios Totikos nicht über seine Kindheit und Jugend gesprochen. Jetzt will er mit seiner Geschichte anderen Mut machen, an ihren Träumen festzuhalten. Vor allem denen, die so aufgewachsen sind wie er. Die aus schwierigen Verhältnissen kommen und auch auf politischer Ebene noch viel zu wenig wahrgenommen werden, wie er sagt. „Es gibt definitiv nicht für alle die gleichen Chancen. Viele Leute rackern sich ab und trotzdem bleiben ihnen Möglichkeiten verwehrt. Aber ich bin davon überzeugt, dass Bildung Wunder bewirken kann. Sie kann dabei helfen, Träume zu verwirklichen – und das wünsche ich anderen auch.“
Nektarios Totikos wird unterstützt durch eine BAföG-Auslandsförderung und ein Rotary-Stipendium.
Förderung für junge Talente an der TUM:
- Seit mehr als 10 Jahren fördert das Deutschlandstipendium bundesweit junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenswegen. Allein an der TUM wurden bisher rund 6.000 Studierende unterstützt.
- Das Agnes-Mackensen-Programm der TUM richtet sich an Frauen, intergeschlechtliche, nicht-binäre, trans- und agender Personen (FINTA*) mit nichtakademischem Elternhaus. Es bietet Workshops an und vermittelt Mentor:innen, die ihnen helfen, sich an der Universität zurechtzufinden und ihre Karriere voranzutreiben.
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