Forschung am neuen Zentrum für Multiple Sklerose und Neurowissenschaften
Besser mit MS leben
Weitere Geschichten in der Ausgabe 1/2023 des Magazins TUMcampus
Seit jeher gilt die Multiple Sklerose (MS) als die Krankheit der tausend Gesichter. Denn jede MS verläuft anders: Betroffene haben gerade zu Beginn dieser Erkrankung, bei der die Körperabwehr Teile des Nervensystems zerstört, mit ganz unterschiedlichen, oft recht unspezifischen Symptomen zu kämpfen. Und während die Krankheit bei den einen nur ganz allmählich, mitunter auch jahrelang gar nicht voranschreitet, nimmt sie bei anderen schnell einen schweren Verlauf.
Die Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, bei der sich die Körperabwehr gegen Bestandteile des zentralen Nervensystems richtet. Zellen des Immunsystems zerstören dabei insbesondere die schützende Myelinschicht, welche die langen Ausläufer der Nervenzellen umgibt. Dadurch ist die Signalübertragung der Zellen gestört: Es kommt zu einer Art Kurzschluss im Nervensystem. Typische Symptome zu Beginn der Erkrankung sind unter anderem Gefühlsstörungen in den Armen oder Beinen, Sehstörungen, Gleichgewichtsprobleme und Lähmungen.
Forschung, Entwicklung und Behandlung unter einem Dach
Die MS im Detail zu verstehen, sie so noch besser als bisher behandeln zu können und gleichzeitig die Lebensqualität der Betroffenen zu steigern, sind die wesentlichen Ziele, auf die man künftig im Zentrum für Multiple Sklerose und Neurowissenschaften der TUM hinarbeiten will. In dem neu entstehenden Gebäude am Klinikum rechts der Isar der TUM, das in knapp drei Jahren seine Tore öffnen wird, soll die Krankheit weiter erforscht werden, sollen Patient:innen nach dem neuesten Erkenntnisstand untersucht und behandelt werden, wollen sich Betroffene in Fragen des täglichen Umgangs mit der Erkrankung gegenseitig unterstutzen – alles unter einem Dach.
Obwohl die Multiple Sklerose im Fokus stehen wird, werden sich die hier forschenden Wissenschaftler: innen auch anderen Erkrankungen des Nervensystems widmen. „Gerade im späteren Verlauf, wenn die Nervenzellen vermehrt absterben, ähnelt die MS in vielerlei Hinsicht zum Beispiel einem Schlaganfall oder Alzheimer“, erklärt Prof. Thomas Misgeld vom Institut für Zellbiologie des Nervensystems der TUM. „Wir wollen daher mit Expertinnen und Experten dieser Krankheiten zusammenarbeiten, um voneinander zu profitieren“, sagt Misgeld.
Mit Daten zur richtigen Therapie
„Uns ist es wichtig, dass die Forschenden unsere Patientinnen und Patienten und deren Bedürfnisse stets im Blick behalten und dass neue Erkenntnisse möglichst rasch bei den erkrankten Menschen ankommen“, sagt der Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie am Klinikum rechts der Isar, Prof. Bernhard Hemmer. Zwei wichtige Fragen, denen Hemmer selbst vermehrt nachgehen möchte, sind die nach den Gründen und nach möglichen Anzeichen für die so unterschiedlichen Verläufe der MS. „Ob die Erkrankung ausbricht und wie schnell sie voranschreitet, resultiert aus dem Zusammenspiel einer Vielzahl teilweise noch unbekannter Faktoren“, sagt der Mediziner.
Man weiß, dass die Gene eine Rolle spielen, dass aber auch veränderliche Aspekte wie ein Mangel an Vitamin D, Rauchen, Übergewicht oder eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus die Entstehung und den Verlauf einer MS beeinflussen. Auch andere Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck wirken sich auf den MS-Verlauf aus. „Unser Ziel ist es, die Patientinnen und Patienten auf vielfaltige Art und Weise zu erfassen“, sagt Hemmer. „Wir wollen Biomarker entwickeln, die sich im Blut oder im Nervenwasser oder auch durch bildgebende Verfahren aufspüren lassen – und die uns verlässlich sagen, wie intensiv und wie lange wir einen bestimmten Menschen behandeln sollten, um ihn möglichst lange beschwerdefrei zu halten.“
Uns ist es wichtig, dass die Forschenden unsere Patienten und deren Bedürfnisse stets im Blick behalten.
Professor für Neurologie
Denn gerade für die frühen Phasen der MS, die meist von wiederkehrenden entzündlichen Erkrankungsschüben geprägt sind, konnte in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe gut wirksamer Arzneien entwickelt werden. „Die erwünschten, aber auch die unerwünschten Effekte dieser auf das Immunsystem ausgerichteten Medikamente sind unterschiedlich stark“, sagt Hemmer. „Und es wäre ein großer Fortschritt, wenn man anhand von Biomarkern für jeden Menschen mit MS gleich von Beginn an den optimal passenden Wirkstoff finden wurde.“
Um solche Biomarker aufzuspüren, sind riesige Mengen an Patientendaten erforderlich, die Hemmer und seine Kolleg:innen teilweise seit vielen Jahren im Rahmen von Studien sammeln. „Damit diese Daten mit den modernsten Methoden erfasst und ausgewertet werden können, ist eine enge Kooperation mit dem Zentrum für Digitale Medizin und Gesundheit beabsichtigt, das als Erweiterungsbau neben dem MS-Gebäude bis 2027 entstehen soll“, sagt Hemmer. So können die Forschenden auch mit Expert:innen der Datenanalyse optimal zusammenarbeiten.
Wenn es dann passt
Wie lange es mitunter dauert, genau das Medikament zu finden, das am besten zu einem passt, hat Nadja Birkenbach-von Kuzenko vor einigen Jahren selbst erfahren. Sie erhielt 2015 die Diagnose MS. „Ich sah plötzlich alles doppelt und beim Gehen wackelte das Bild meiner Umgebung vor meinen Augen hin und her“, erzählt sie. Bei ihr hatte das Immunsystem damit begonnen, die beiden Sehnerven anzugreifen, die jedes Auge mit dem Gehirn verbinden. Birkenbach-von Kuzenko kam nach einem Besuch in der Notaufnahme der Klinik in die Sprechstunde von Prof. Hemmer.
„Nach einer ersten Stoßtherapie mit Kortison begann die Suche nach der für mich passenden Langzeitbehandlung mit einem immunmodulierenden Wirkstoff“, berichtet sie. Die ersten drei Medikamente vertrug sie nicht gut. „Danach brauchte ich erst mal eine Pause“, sagt sie. Der nächste Krankheitsschub ließ daraufhin jedoch nicht lange auf sich warten. „Ich habe dann noch ein weiteres Medikament ausprobiert – mit ihm lebe ich jetzt seit vier Jahren frei von Krankheitssymptomen und Nebenwirkungen.“
Die Idee ist, dass die Patienten nach der Diagnose einen schon länger an MS erkrankten Menschen zur Seite gestellt bekommen
Patientenvertreterin
Sich gegenseitig stützen
Im Zentrum für Multiple Sklerose und Neurowissenschaften wird Birkenbach-von Kuzenko einen Begegnungsraum für sich und andere Patient:innen erhalten. „Ich kam eines Tages im Dezember 2021 aus der MS-Ambulanz der Klinik und traf auf der Straße eine völlig verzweifelte junge Frau, die gerade ihre MS-Diagnose erhalten hatte“, erzählt sie. „Sie hatte so viele Fragen und Ängste – und zwar genau jene, die mich am Anfang meiner Erkrankung selbst geplagt hatten.“ Birkenbach-von Kuzenko beschloss daraufhin, all die positiven Erfahrungen, die sie in den vergangenen Jahren gemacht hatte, mit anderen Betroffenen zu teilen: Gemeinsam mit Prof. Hemmer, dem sie ihren Plan wenige Tage später per E-Mail unterbreitete, rief sie ein Paten-Programm für MS-Erkrankte ins Leben.
„Die Idee dahinter ist, dass die Patientinnen und Patienten in der ersten Zeit nach der Diagnose einen schon länger an MS erkrankten Menschen zur Seite gestellt bekommen“, sagt Birkenbach-von Kuzenko. „Er soll ihnen helfen, im Alltag mit ihrer Krankheit souverän umzugehen und weiterhin ein möglichst unbeschwertes und aktives Leben zu führen.“ Natürlich können sich diese beiden Menschen überall treffen, wo es ihnen gefällt – doch Raum dafür wird es auch in dem neuen Zentrum geben.
Gerade zu Beginn ihrer Erkrankung haben Patient:innen mit MS oft viele quälende Fragen: Wann und wie sage ich es meiner Familie, meinem Freundeskreis, meinen Kolleg:innen? Wie stark wird sich mein Leben verändern? Was wird aus meinem Sport, meinen Hobbys? Wie schnell werde ich auf Hilfe von anderen angewiesen sein? Damit sich in dieser schwierigen Phase niemand allein gelassen fühlt, existiert am Klinikum rechts der Isar ein Paten-Programm für Menschen mit MS. Informationen finden Sie hier:
089 4140-7640
ms-patenprogramm.nl @mri.tum.de
Erforschung der chronischen Phase
„Wir können die frühe Phase der MS, die mitunter jahrzehntelang andauern kann, inzwischen wirklich so gut behandeln, dass viele Patientinnen und Patienten ein fast völlig normales Leben führen“, sagt Hemmer. Deutlich weniger Therapieangebote gibt es bislang für die Phase, bei der die Krankheit nicht mehr in Schüben auftritt, sondern kontinuierlich voranschreitet. „Wir wissen, dass die akuten Entzündungen im Nervensystem, die wir mittlerweile recht gut kontrollieren und in Schach halten können, dann abnehmen“, erklärt der Mediziner. „Warum in der späteren chronischen Phase, an der manche Betroffene von Beginn an leiden, immer mehr Nervenzellen absterben und wie sich dieser Prozess verzögern oder aufhalten lässt, ist hingegen leider noch weitgehend ungeklärt.“
An diesen Fragen arbeiten Prof. Misgeld und seine Kolleg:innen intensiv. „Wir werden uns vor allem mit drei Aspekten beschäftigen“, kündigt Misgeld an. Eine Gruppe um den Neurologen Prof. Thomas Korn erforscht, wie sich die späten Immunreaktionen der MS, an denen andere Abwehrzellen als in der frühen Phase beteiligt sind, besser verhindern lassen. Ein weiteres Team um den Neurobiologen Prof. Mikael Simons widmet sich der Frage, wie sich die Gliazellen des Gehirns dazu bringen lassen, die schützende und isolierende Myelinschicht der Nervenzellen, die bei MS-Patient:innen mehr und mehr verloren geht, wieder verstärkt aufzubauen.
Überwindung der „Energiekrise“
Prof. Misgeld selbst will gemeinsam mit seinem eigenen Team und einer Gruppe um Angelika Harbauer, Professorin für Neuronen und Metabolismus, herausfinden, was genau die Nervenzellen absterben lässt. „Es verdichten sich die Hinweise, dass am Ende der Energiestoffwechsel der Zellen versagt“, sagt Misgeld. „Um die zelluläre Energiekrise zu überwinden, müssen wir unter anderem sicherstellen, dass die Axone, die langen Ausläufer der Nervenzellen, sowohlaus dem Zellkörper als auch uber die Gliazellen aus der Nachbarschaft ausreichend mit Energie, quasi mit Care-Paketen, versorgt werden.“
Wir arbeiten daran, dass Menschen mit MS einem langen Leben ohne Behinderung entgegenblicken können.
Professor für Neurologie
Dass Energiekrisen oft nur schwer zu bekämpfen sind, ist hinlänglich bekannt. Vor allem braucht es dazu die gemeinsamen Bemühungen einer Vielzahl von Menschen. „Genau darum wird es im Zentrum für Multiple Sklerose und Neurowissenschaften gehen“, sagt der Neurologe Hemmer. „Wir alle arbeiten zusammen daran, dass Menschen mit MS in nicht mehr allzu ferner Zeit einem langen Leben ohne Behinderung entgegenblicken können.“
Ab Anfang 2026 sollen im Zentrum für Multiple Sklerose und Neurowissenschaften rund 2.000 Menschen mit Multipler Sklerose behandelt werden. Außerdem wird das neue Zentrum Forschung, Therapieentwicklung und Behandlung unter einem Dach bündeln. Der Neubau wird maßgeblich durch eine Spende der Klaus Tschira Stiftung ermöglicht. An den Gesamtkosten von rund 54 Millionen Euro beteiligt sich der Freistaat Bayern mit 12 Millionen Euro, zudem sind die Fakultät für Medizin und die TUM mit jeweils 8 Millionen Euro beteiligt.
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Prof. Dr. Bernhard Hemmer
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
Klinik und Poliklinik für Neurologie
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Prof. Dr. Thomas Misgeld
Technische Universität München
Institut für Zellbiologie des Nervensystems
+49 89 4140 3512
thomas.misgeld @tum