Studie zeigt Motive von Gründerinnen und Gründern
Aus Eigeninteresse zum Sozialunternehmen
Sozialunternehmen bieten Produkte und Dienstleistungen an, die gesellschaftliche Missstände nachhaltig beseitigen können, arbeiten gemeinwohlorientiert und investieren jegliche finanzielle Erträge wieder ins Unternehmen. Die Forschung hat Vermutungen bestätigt, dass sie eher von Menschen mit großer Empathie gegründet werden. Doch zuletzt wurde in der Wissenschaft gezweifelt, ob eine soziale Einstellung allein als Erklärung für die Gründung von Sozialunternehmen tatsächlich immer ausreicht.
Ein Forschungsteam der Technischen Universität München (TUM) und der University of Notre Dame hat deshalb 13 Sozialunternehmen, die 2015 im Raum München nach der Ankunft Tausender Geflüchteter gegründet wurden, acht Monate lang begleitet. Die Unternehmen organisierten unter anderem private Wohnungen, trainierten Geflüchtete für bestimmte Jobs, bereiteten sie auf Behördengänge vor, versorgten Unterkünfte mit Internet, betrieben eine Fahrradwerkstatt oder organisierten die Verteilung von Spenden. Das Forschungsteam führte Interviews mit den Gründerinnen und Gründern sowie mit Mitarbeitenden, Freiwilligen und Geflüchteten, beobachtete die Gründungsteams bei ihrer Arbeit und analysierte Material der Unternehmen wie etwa Präsentationen und Berichte.
Berufliche Unabhängigkeit als Ziel
Die Auswertung zeigt, dass es zwei verschiedene Typen an Gründerinnen und Gründer gab, die sich in ihrer Motivation unterschieden. Eine Gruppe hatte das Bedürfnis, Geflüchteten bei ihren dringendsten Problemen zu helfen und sah die Unternehmensgründung als bestes Mittel. Eine andere Gruppe fühlte zwar ebenfalls Mitleid mit den Geflüchteten und wollte etwas Sinnvolles tun. Ihr Hauptmotiv, unternehmerisch tätig zu werden, war aber ihr Eigeninteresse. Sie sahen die Situation als Möglichkeit, sich den Wunsch nach einer eigenen Firma zu erfüllen. Beruflich unabhängig zu werden, ein erfolgreiches Projekt aufzuziehen, Gründungserfahrung zu sammeln – diese Ziele trieben die Gründerinnen und Gründer an.
„Das Eigeninteresse, in dieser Krise ein Unternehmen aufzubauen, sollte nicht mit Zynismus verwechselt werden“, sagt die Studienautorin Dr. Alexandra Mittermaier vom Lehrstuhl für Entrepreneurship der TUM. „Alle Gründerinnen und Gründer wollten zur Lösung der sozialen Probleme beitragen. Auf einer anderen Ebene sollten wir den persönlichen Antrieb betrachten, tatsächlich eine Unternehmensgründung zu wagen.“
Unterschiedliche Strategien
Die beiden Typen hatten nicht nur unterschiedliche Motive. Aus diesen Beweggründen resultierten auch zwei unterschiedliche Vorgehensweisen beim Aufbau ihrer Unternehmen.
Die idealistischen Gründerinnen und Gründer versuchten, ihre unternehmerischen Aktivitäten so auszurichten, dass sie möglichst schnell und umfassend helfen konnten. Manche Start-ups wurden innerhalb weniger Tage gegründet, in einem Fall von Personen, die sich gerade erst kennengelernt hatten. Teils entwickelten Teams in kürzester Zeit ein Produkt oder eine Dienstleistung und entschlossen sich dann spontan zur Gründung.
Um möglichst viele Geflüchtete unterstützen zu können, setzten diese Gründerinnen und Gründer auf eine rasche Skalierung ihrer Aktivitäten. Zum ersten versuchten sie, viele Freiwillige und Spenden zu gewinnen. Die Koordinierung der wachsenden Zahl an Mitarbeitenden machte es notwendig, schnell eine feste Organisationsstruktur zu schaffen und Prozesse zu standardisieren. Zum zweiten gingen sie sehr früh dazu über, ihre Produkte und Dienstleistungen auszubauen und zu erweitern, um möglichst umfangreich Hilfe zu leisten.
Grundlage für langfristigen Erfolg
Die Gründerinnen und Gründer, die maßgeblich aus Eigeninteresse handelten, konzentrierten sich dagegen darauf, eine Grundlage für ein langfristig erfolgreiches Unternehmen zu schaffen. Teils über Monate analysierten sie Produktideen und Geschäftsmodelle sowie die Stärken und Schwächen ihrer Teams. Sie holten Feedback ein, verwarfen Pläne und entwickelten neue Konzepte, um eine Marktlücke füllen zu können.
Die Teams beschränkten sich in der Gründungsphase auf einen kleinen Kern aus Personen, die unternehmerisches Know-how hatten. Wenn Angestellte dazu kamen, schufen die Gründerinnen und Gründer möglichst flexible Organisationsstrukturen, die leicht anzupassen waren, wenn sie sich als nicht optimal herausstellten. Auch bei der Einführung ihrer Produkte starteten sie mit kleinen Zahlen, um zunächst aus der Resonanz zu lernen und die Angebote verbessern und individualisieren zu können.
„Großes Potenzial heben“
„Die Studie zeigt, dass Sozialunternehmen und ihre Gründungsteams unterschiedlicher sind als oft angenommen“, sagt Prof. Holger Patzelt, Inhaber des TUM-Lehrstuhls für Entrepreneurship. „Die Entrepreneurship-Ausbildung, -Beratung und -Förderung geht noch zu häufig von rein idealistischen Motiven aus. Wenn auf diejenigen Gründerinnen und Gründern stärker eingegangen wird, die Eigeninteresse und Engagement verbinden, lässt sich ein großes Potenzial heben, soziale Probleme langfristig unternehmerisch anzugehen. Auch den Gründerinnen und Gründern selbst können die Forschungsergebnisse helfen, ihren eigenen Weg zu finden.“
Mittermaier, A., Patzelt, H., Shepherd, D. A. (2021). Motivating Prosocial Venturing in Response to a Humanitarian Crisis: Building Theory From the Refugee Crisis in Germany. Entrepreneurship Theory and Practice. DOI: 10.1177/10422587211025233
Mittermaier, A., Shepherd, D. A., Patzelt, H. (2021). We Cannot Direct the Wind, but We Can Adjust the Sails: Prosocial Ventures’ Responses to Potential Resource Threats. Organization Science. DOI: 10.1287/orsc.2021.1465
In einer zweiten Studie mit einem Teil derselben Start-ups untersuchte das Forschungsteam, wie die Sozialunternehmen den Stimmungswandel in Teilen der Öffentlichkeit bewältigten, der nach mehreren von Geflüchteten verübten Gewaltverbrechen eintrat. Sie stellten fest, dass es verschiedene erfolgreiche Strategien gibt, mit denen in solchen Situationen externe Ressourcen aufrechterhalten werden können, auf die Sozialunternehmen in Form von Freiwilligen-Unterstützung und Spenden deutlich stärker angewiesen sind als andere Firmen. Beispielsweise stärkten manche Unternehmen die Identifikation der Freiwilligen, indem sie sie stärker an Entscheidungen beteiligten.
Technische Universität München
Corporate Communications Center
- Klaus Becker
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Kontakte zum Artikel:
Dr. Alexandra Mittermaier
Technische Universität München (TUM)
Lehrstuhl für Entrepreneurship
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alexandra.mittermaier @tum.de
Prof. Dr. Dr. Holger Patzelt
Technische Universität München (TUM)
Lehrstuhl für Entrepreneurship
Tel.: +49 89 289 52805
patzelt @tum.de