Die Entdeckung eines vergessenen Biosignals
Atemfrequenz sagt Therapieeffekt bei Herzkranken voraus
Der plötzliche Herztod ist eine der häufigsten Todesursachen in westlichen Industrienationen. Er kann durch die Implantation eines Kardioverter-Defibrillators (ICD) verhindert werden. Dieser erkennt automatisch gefährliche Rhythmusstörungen und beendet sie durch Stromimpulse. Die Leitlinien empfehlen die Implantation eines ICDs bei Menschen mit einer deutlich eingeschränkten Pumpfunktion der linken Herzkammer. Mehr als 42.000 Defibrillatoren wurden laut dem Deutschen Herzbericht 2018 in Deutschland implantiert.
Der Effekt der Implantation des ICDs ist jedoch mitunter fraglich. Auch der aktuelle Herzbericht der Deutschen Herzstiftung merkt kritisch an, dass der Nutzen der Defibrillator-Therapie nicht so ausgeprägt sei, wie bisher angenommen. Dem Nutzen gegenüber stehen zudem nicht selten Komplikationen beim oder nach dem Einsetzen des Implantats.
Die Aussagekraft der nächtlichen Atemfrequenz
Forscher der TUM haben nun gezeigt, dass die bislang wenig beachtete nächtliche Atemfrequenz der Herz-Patientinnen und -Patienten als Prädiktor für den Erfolg einer ICD-Behandlung herangezogen werden kann. Sie beobachteten zwischen Mai 2014 und September 2018 insgesamt 1.971 Herzkranke in 44 europäischen Herzzentren. 1.363 der Patienten bekamen einen Kardioverter-Defibrillator implantiert, die Kontrollgruppe wurde konservativ behandelt. Die jeweiligen Behandlungsvarianten waren durch die unterschiedlichen Verfügbarkeiten der ICD-Therapie in den teilnehmenden europäischen Zentren vorgegeben. Es handelt es sich also um eine nicht randomisierte Studie, wobei dadurch ausgelöste Verzerrungen der Ergebnisse durch ausgefeilte statistische Analysemethoden ausgeglichen wurden. Die Studie erschien nun im „eClinicalMedicine“-open-access Journal der renommierten Fachzeitschrift Lancet.
In beiden Gruppen maßen die Wissenschaftler die durchschnittliche nächtliche Atemfrequenz zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens auf Basis eines EKG-Protokolls. Die Defibrillator-Träger hatten einen Überlebensvorteil von 31,3 Prozent gegenüber den Kontrollpatienten. Zugleich zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen niedriger nächtlicher Atemfrequenz und einer reduzierten Sterblichkeit: ICD-Träger mit einer Frequenz von weniger als 18 Atemzügen pro Minute hatten durch das Gerät einen Überlebensvorteil von 50 Prozent im Vergleich zur Kontrollgruppe. Bei einer höheren nächtlichen Atemfrequenz hatten sie hingegen keinen Überlebensvorteil durch den ICD.
Ein von der Kardiologie vernachlässigtes Biosignal
„Die Atemfrequenz ist ein Biosignal, das bislang in der Kardiologie weitgehend ignoriert wurde“, sagt Prof. Georg Schmidt, Leiter der Arbeitsgruppe Biosignalverarbeitung am Klinikum rechts der Isar der TUM und Letztautor der Studie. „Unsere Erkenntnisse rücken diesen Parameter nun wieder in den Fokus.“ Die Studie belege die prädiktive Aussagekraft der Atemfrequenz für den Therapieeffekt. „Gerade in Grenzfällen kann ein Blick auf die Atemfrequenz die Therapieentscheidung erleichtern.“
Randomisierte Studie nötig
Vor diesem Hintergrund hält es Schmidt, der auch der Ethikkommission der TUM vorsitzt, für vertretbar, im nächsten Schritt eine randomisierte Untersuchung gegen die etablierten Leitlinien anzustreben. „Dabei würden jene Patienten, bei denen wir in unserer Studie keinen Benefit durch die ICD-Implantation beobachtet haben, in zwei Gruppen geteilt. Während die eine Gruppe einen ICD implantiert bekommt, wird die andere konservativ behandelt. Wenn sich in einer solchen randomisierten Studie zeigt, dass Herzpatienten mit hoher nächtlicher Atemfrequenz nicht von der ICD-Implantation profitieren, könnte diesen in Zukunft der Eingriff erspart werden.“
M. Dommasch, A. Steger, G. Schmidt et. al.: Nocturnal respiratory rate predicts ICD benefit: a prospective, controlled, multicentre cohort study. EClinicalMedicine (2020). DOI: 10.1016/j.eclinm.2020.100695
Erstautoren der von der Europäischen Union geförderten Studie sind Michael Dommasch und Alexander Steger der TUM. Sie wurde an 44 Zentren in 15 Ländern durchgeführt. Prof. Markus Zabel vom Herzzentrum Göttingen organisierte das europaweite Set-up. Das Institut für Medizinische Statistik der Universität Göttingen unter der Leitung von Prof. Tim Friede betreute das statistische Datenmanagement.
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