• 15.7.2016

Ursache für seltene Erkrankung gefunden

Gendefekt stört Eiweißproduktion

Kommen Kinder mit seltenen angeborenen Organschäden, oder Entwicklungsstörungen zur Welt, bleibt die Ursache häufig ungeklärt. Eine zielgerichtete Therapie ist kaum möglich. In Hinblick auf eine dieser seltenen Erkrankungen gibt es jetzt eine Erfolgsmeldung: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Technischen Universität München (TUM), des Universitätsklinikums Heidelberg und des Helmholtz Zentrums München haben die genetische Ursache für die schweren Symptome dreier kranker Kinder gefunden.

Laborgeräte (Foto: Universitätsklinikum Heidelberg)
Die Ursache für eine seltene Erkrankung, die bei Kindern für schwere Entwicklungsstörungen sorgt, liegt in einem fehlerhaften Bauplan für das Enzym IARS. (Foto: Universitätsklinikum Heidelberg)

Der einzige deutsche Patient mit der seltenen Erkrankung wird seit 2000 am Universitätsklinikum Heidelberg betreut. Bei dem damals siebenjährigen Kind wurden Leberversagen, eine geistige Behinderung und extreme körperliche Entwicklungsstörungen festgestellt – sein Gewicht lag weit unter Norm. Einige Symptome konnte ein Ärzteteam um Prof. Georg F. Hoffmann, den Geschäftsführenden Direktor des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin und Leiter des Zentrums für Seltene Erkrankungen Heidelberg, bereits damals lindern. Die Mediziner stellten einen gravierenden Zinkmangel fest. Nachdem dieser ausgeglichen wurde, nahm das  Kind schlagartig zu und entwickelte sich deutlich besser.

Die genetischen Ursachen der Krankheit blieben jedoch zunächst unklar. Um sie zu finden, sequenzierte die Arbeitsgruppe von Dr. Holger Prokisch vom Institut für Humangenetik an der TUM und am Helmholtz Zentrum München alle Abschnitte der Patienten-DNA, die Informationen für die Herstellung von Proteinen beinhalten. Genetische Analysen zeigten Veränderungen im genetischen Bauplan für ein bestimmtes Enzym (Isoleucyl-tRNA-Synthetase, kurz IARS), das in der Eiweißproduktion des Körpers unverzichtbar ist.

IARS gehört zur elementaren Grundausstattung bei Tieren, Pflanzen und Pilzen. Es sorgt dafür, dass bei der Eiweißproduktion in den Zellen ein wichtiger Baustein, die Aminosäure Isoleucin, stets verfügbar ist. Dazu bindet IARS Isoleucin an ein Transportmolekül (tRNA), mit dessen Hilfe es exakt an der dafür vorgesehenen Stelle in das neue Eiweiß eingebaut wird. „IARS wird in jeder Zelle, in jedem Organ benötigt. Ein IARS-Defekt stört daher die Zellfunktion im gesamten Körper, verursacht Gewebe- und Organschäden“, sagt Seniorautor und Projektkoordinator Dr. Christian Staufner vom Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Heidelberg.

IARS-Test zur Vorbeugung

„Zwar gibt es keine Therapie, die die genetische Veränderung ausgleichen kann. Trotzdem können zukünftig betroffene Kinder von diesem Wissen profitieren: Zeigt sich im Test ein IARS-Defekt, kann man früh mit Zink behandeln und möglicherweise einigen Schäden vorbeugen“, sagt Georg F. Hoffmann.

Neben dem mittlerweile 20-jährigen Heidelberger Patienten wurden durch eine internationale Kooperation mit Partnern in Österreich und Japan bisher zwei weitere Kinder mit IARS-Defekt gefunden. Der österreichische Patient ist aktuell vier Jahre alt und wird nun ebenfalls mit Zink behandelt. Die Forschungsergebnisse sind im American Journal of Human Genetics erschienen.

Gendefekt auch für Erkrankung bei Kälbern verantwortlich

Um das Krankheitsbild besser zu verstehen, untersuchte die Arbeitsgruppe um Holger Prokisch gemeinsam mit den die Heidelberger Wissenschaftlern die Folgen eines IARS-Defektes in Hefekulturen und auch bei Zebrafischen. Das Wachstum der Hefekulturen war deutlich eingeschränkt, sobald ein künstlicher IARS-Defekt erzeugt wurde. Ähnlich wie beim Menschen zeigten sich bei Fischen mit künstlich ausgeschaltetem IARS erste Auswirkungen bereits während der Embryonalphase. Viele Fischembryonen starben ab, überlebende blieben kleiner und entwickelten Hirnschäden.

Mit angeborenen Erkrankungen beim Menschen ist IARS bisher nicht in Verbindung gebracht worden. Wohl aber bei Rindern: In Japan verursachen IARS-Defekte bei Rindern der einer bestimmten Rasse das sogenannte „Weak Calf Syndrom“ und sind ein großes Problem der Viehwirtschaft. Rund die Hälfte der Kälber mit diesem Defekt stirbt schon vor der Geburt, die übrigen kommen unterentwickelt zur Welt, sind schwach, krankheitsanfällig und bleiben im Wachstum zurück. Der bei Menschen festgestellte Zinkmangel tritt allerdings bei den Kälbern nicht auf. „Wie IARS-Defekt und Zinkmangel zusammenhängen, bleibt noch zu klären“, sagt Christian Staufner.

Vorreiterrolle bei lebererkrankungen

Der Fund der genetischen Veränderung reiht sich ein in die Suche der Arbeitsgruppen aus München und Heidelberg nach genetischen Ursachen von ungeklärtem akutem Leberversagen bei Kleinkindern. Akutes Leberversagen bei Kindern ist selten, aber lebensgefährlich. Es tritt meist plötzlich zum Beispiel im Zuge eines fiebrigen Infektes auf. Bei der Hälfte der Patienten lässt sich die Ursache nicht klären. Das Wissen um die Ursachen des akuten Leberversagens kann dazu beitragen, den Krankheitsverlauf besser einschätzen, gezielte Therapien und Diagnoseverfahren entwickeln sowie die Eltern besser beraten zu können.

Bereits 2015 identifizierte das Team bei Erbgutanalysen betroffener Kinder und ihrer Eltern eine andere genetische Veränderung, die mit dem Auftreten des Leberversagens zusammenhängt. Diese Veränderung betrifft das Protein NBAS, das eine wichtige Rolle beim Stofftransport innerhalb der Zelle spielt. Die Kooperationspartner an der TUM und in Heidelberg nehmen mittlerweile bei der Aufklärung genetisch bedingter Lebererkrankungen im Kindesalter international eine Vorreiterrolle ein. Inzwischen konnten mehr als 40 Patienten mit NBAS-Defekt identifiziert werden, und auch hier entwickelten die Kooperationspartner eine hilfreiche Therapie. Aktuell werden alle Kinder in Deutschland, die an einem unerklärten Leberversagen leiden, in Heidelberg gemeldet.

Kontakt

Dr. Holger Prokisch
Institut für Humangenetik
Telefon: +49.89.3187.2890
E-Mail: Prokischspam prevention@helmholtz-muenchen.de

Publikationen:

Kopajtich et al., Biallelic IARS Mutations Cause Growth Retardation with Prenatal Onset, Intellectual Disability, Muscular Hypotonia, and Infantile Hepatopathy, The American Journal of Human Genetics (2016), http://dx.doi.org/10.1016/j.ajhg.2016.05.027

Staufner C et al.,  Recurrent acute liver failure due to NBAS deficiency: phenotypic spectrum, disease mechanisms, and therapeutic concepts.  J Inherit Metab Dis. 2016 Jan;39(1):3-16. Epub 2015 Nov 5.

Haack T.B. et al., Biallelic Mutations in NBAS Cause Recurrent Acute Liver Failure with Onset in Infancy. Am J Hum Genet. 2015 Jul 2;97(1):163-9. Epub 2015 Jun 11.

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