TUM-Historiker erarbeiten die Inhalte des Gedenk- und Informationsortes für die Opfer der „Euthanasie“-Morde
Erinnern heißt gedenken und informieren
Im November 2011 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, am Ort der ehemaligen Planungszentrale der nationalsozialistischen „Euthanasie"-Aktion in der Berliner Tiergartenstraße 4 einen Gedenk- und Informationsort für die etwa 300.000 Opfer der „Euthanasie“-Morde zu errichten. Die „Euthanasie“-Opfer und die zwangssterilisierten Menschen gehörten lange zu den vergessenen Opfern der NS-Herrschaft. Mit dem neuen Gedenk- und Informationsort, der von einer Gruppe um die Architektin Ursula Wilms gestaltet wurde, rücken sie nun in den Mittelpunkt des öffentlichen Erinnerns.
Die historischen Inhalte, die Texte und Beiträge für die Medienstationen der Freiluftausstellung erarbeitete ein Team unter der Leitung von PD Dr. Gerrit Hohendorf vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TUM und PD Dr. Maike Rotzoll von der Universität Heidelberg in einem zweijährigen Erkenntnistransfer-Projekt, das von der DFG mit rund 300.000 Euro gefördert wird. Einige der Wissenschaftler hatten bereits in einem Vorgängerprojekt über zwei Jahre lang 3000 Krankenakten von Opfern der „Euthanasie“-Morde historisch aufgearbeitet. Diese Erkenntnisse flossen auch in das neue DFG-Projekt „Erinnern heißt gedenken und informieren: Die nationalsozialistische 'Euthanasie' und der historische Ort Berliner Tiergartenstraße 4“ ein, das in Kooperation mit den Stiftungen „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ und „Topographie des Terrors“ durchgeführt wird.
Bereits im Mai 2013 trafen sich die Wissenschaftler bei einem Workshop für die Arbeit am Ausstellungskonzept mit Angehörigen von Opfern, Vertretern von Betroffeneninitiativen und Historikern. Gemeinsam loteten sie die Grenzen und Möglichkeiten aus, wie die historischen Informationen an diesem authentischen Ort der Planung und der Organisation der ersten Massenvernichtungsaktion im Nationalsozialismus vermittelt werden können.
Vor allem Menschen mit Behinderungen oder Lernschwierigkeiten sollen einen Zugang zur Ausstellung bekommen. Dafür sorgt die Übertragung der Ausstellungstexte in eine leicht verständliche Sprache, und es gibt Medienstationen mit Angeboten für Menschen mit Seh- bzw. Hörbeeinträchtigungen. „Die historische Information soll gerade für diejenigen Gruppen von Menschen begreifbar sein, die in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer des Vernichtungsprogramms hätten werden können“, erklärt Hohendorf.
Zehn exemplarische Opferbiografien
Die Schicksale der Opfer sind Geschichten einer gesellschaftlichen Ausgrenzung, die oftmals bereits vor 1933 begonnen hatte und mit der physischen Vernichtung endete. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Organisationszentrale des „Euthanasie“-Programms, die in einer Stadtvilla in der Berliner Tiergartenstraße 4 ihren Sitz hatte: Hier gingen die Meldebögen über die zu selektierenden Patienten ein, hier wurden die Transporte in die Tötungsanstalten organisiert und die Morde bürokratisch abgewickelt.
Zehn exemplarische Opferbiografien wählten die Wissenschaftler aus, um die Ausstellung zu gliedern und an ganz unterschiedliche Lebensschicksale zu erinnern. Zu den Opfern zählen der 87-jährige Kutscher Karl Ahrendt, der seit 1907 in Berliner Heil- und Pflegeanstalten verwahrt und 1941 in der Gasmordanstalt Bernburg ermordet wurde ebenso wie die 15-jährige Wilhelmine Haußner aus München, die 1942 in einer so genannten Kinderfachabteilung mit überdosierten Medikamenten ums Leben gebracht wurde. Die ermordeten Menschen mit psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen galten im nationalsozialistischen Staat als „unheilbar krank“ und als „lebensunwertes Leben“.
Auch wenn die von der Tiergartenstraße 4 aus organisierten Gasmorde („Aktion T4“) nach Protesten aus den Kirchen und der Bevölkerung im August 1941 unterbrochen wurden, gingen die Tötungen in den Heil- und Pflegeanstalten mit systematischem Nahrungsentzug, Vernachlässigung und überdosierten Medikamenten bis 1945 weiter. Insgesamt sind, einschließlich der Morde an Psychiatriepatienten in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion, etwa 300.000 Menschen dem nationalsozialistischen „Euthanasie“-Programm zum Opfer gefallen. Nach Jahrzehnten des Verdrängens und Verschweigens – in der Psychiatrie, in der Gesellschaft und in der Justiz – wird die Erinnerung an die ermordeten Menschen jetzt an einem zentralen Ort in Berlin präsent sein.
Folgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind am Erkenntnistransfer-Projekt „Erinnern heißt gedenken und informieren“ beteiligt, das mit der Erarbeitung der Kataloge und der Online-Präsentation noch bis Anfang 2015 fortgesetzt: Dr. Christof Beyer (TUM), Dr. Petra Fuchs (Berlin), Dr. Annette Hinz-Wessels (TUM), PD Dr. Gerrit Hohendorf (TUM), PD Dr. Maike Rotzoll (Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität Heidelberg), Jens Thiel (TUM).
Kontakt
PD Dr. Gerrit Hohendorf
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin
Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München
hohendorf @gesch.med.tum.de
Tel.: 089 4140 - 4041
PD Dr. Hohendorf steht am Montag, den 1. September, in Berlin für Interviews zur Verfügung (auch telefonisch). Termine können über Frau Jenifer Stolz (jenifer.stolz, 030/263 943 26) im Vorhinein vereinbart werden.
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